Augen zu und durch

„Geräusche“: Eine Ausstellung mit akustischen Objekten im Museum für Gestaltung in Basel. Ganz Ohr war  ■ Frank Hilberg

„Nur wer nichts sieht, ist ganz Ohr.“ Kurz und bündig ist hier eine Grundregel der Aufmerksamkeit formuliert: Wer sieht, dem vergeht das Hören. So ist es in der Oper, so ist es im Konzert (oooh, dieser schulterfreie Fummel der Geigerin), und so ist es erst recht im Alltag.

Eine Ausstellung – sonst ein Fest der Augen, ein Besäufnis der Netzhaut – zu machen, ohne dem privilegiertesten aller fünf Sinne zu huldigen, erfordert Mut. Sicherlich mehr Mut, als ein weißes Quadrat auf weißem Grund auszustellen, denn selbst das bloße Weiß schmeichelt noch dem prominenten Ratgeber des Bewußtseins. Aber dem verwöhnten Blick lediglich spanplattengraubraune Boxen, mehr Kiste als Hörkabinett, anzubieten, ist wahrhaft karge Diät. Also Augen zu und durch beziehungsweise hinein: in die Welt der Geräusche.

Der Auftakt ist haltlose Spekulation, pure Übertreibung, denn der „Urknall“, dieses erste akustische Event und zugleich erste Ereignis der kosmischen Geschichte überhaupt, ist wohl für immer verklungen – und läßt sich durch eine Sprengladung nur unzureichend substituieren. So aber beginnt die Ausstellung, und dicht gefolgt wird sie vom Brodeln der Ursuppe, die, glaubt man seiner Alltagsbeobachtung, eine Art dicke Linsensuppe gewesen sein muß (so klingt sie jedenfalls).

Wer will, kann darin eine kritische Distanz der Konzepteure sehen, denn die Vielfalt der Geräusche ist schier unendlich – das Thema ist kaum zu bewältigen, und was hilft da besser als ironischer Abstand? Wer der Ausstellung folgt, wird einen Zipfel dieser Mannigfaltigkeit erhaschen, wird ahnen, wie taub er, aufs Visuelle fixiert, bislang durchs Leben gelaufen ist, von basaleren Regionen der Wahrnehmung unberührt.

Wo Geräusche als Exponate und Hörkabinen als Vitrinen fungieren (wobei der Besucher im Inneren, vom Ausstellungsgegenstand umgeben ist), kommt die museale Isolation auch den akustischen Objekten zugute. Abgelöst vom gewohnten Zusammenhang, wo die Geräusche der Dinge gehorsame Töchter sind, können sie, abgedämpft auf menschliches Maß, ihren Charakter frei entfalten. Erst jetzt verbreiten sie den Zauber ihrer feinen Kräfte, die im Alltag aufgrund ihrer tausendfachen Polyphonie gewöhnlich als „Lärm“ registriert, gefürchtet und gehaßt werden.

Die Macht der Geräusche gründet nicht allein im Schalldruck, in der Lautstärke, sie reicht tiefer. In die Box Nr. 11 eintretend, verharrt das Ohr zunächst ratlos, bis es ergründet hat, welch fesselnde Laute den Atem stocken lassen – es ist die Unabweisbarkeit des Herzschlags. So leise dieses von jedem Menschen zuerst wahrgenommene Geräusch auch ist, sofort reagieren alle Sinne darauf. Wie bildergewaltig Geräusche wirken, zeigt ein „Audiowestern“, ein imaginärer Film, der aus genrespezifischen Geräuschen besteht: Das Satteln von Pferden, Trab, Bremsung (wie heißt das bei Pferden?), Quietschen der Saloontür, Pokergemurmel, Durchladen der Winchester... keine Fragen mehr, sofort tauchen die entsprechenden Bilder auf und reihen sich zwanglos zu einer linearen Story. Aber sie haben eine andere, raumfüllendere Tiefe als im Kino, sind voluminöser, näher, bedrohlicher. Vielleicht schlägt sich hier die archaische, bis heute gültige Funktion des Gehörs als Alarmsinn nieder. Wenn auch das Auge schläft, das Ohr ist immer offen. Und wenn es hinter dem Rücken knackt, wird es dem Blick zwecks Aufklärung sogleich gemeldet.

Geräusche sind zur Orientierung unabdingbar. Diese Erfahrung mußten auch die „Sound-Designer“ von IBM machen, als sie eine geräuschfreie Computertastatur entwickelten. Sie war einfach unpraktisch, Fehler häuften sich, die Arbeitsgeschwindigkeit ließ nach. Denn Irritation ist besonders dann die Folge, wenn die „Stimmen der Dinge“ nicht zur Welterfahrung passen, wenn eine Handlung nicht von einem Laut begleitet wird. Oder gar ein „falsches“ Geräusch ertönt, etwa wenn bei der Aktivierung eines Eierkochers ein Rudel Hühner gackert. Vorläufig fällt das noch unter die Rubrik Klamauk, aber die Erfahrung lehrt, daß nichts albern genug sein kann, um nicht alsobald von Designern ernst genommen zu werden.

Die Ausstellung schlägt einen weiten Bogen, zeigt das Geräusch im Hörspiel (zum selber ausprobieren), macht eine „Weltreise“ (fremde Völker, exotische Sounds) und eine „Zeitreise“ (Schreibgeräusche einst und jetzt), streift die psychologische Dimension (Nachbarn!!!), wird systematisch (das „Rauschen“) und monographisch (Klangwelt der Einbauküche) und kann daher der Kritik an solchem „Wir zeigen mal, was es so gibt“ nicht ganz entgehen – trotz des Witzes und der Intelligenz im einzelnen.

Aber andererseits handelt es sich um eine neue Gattung von Ausstellung, die sich erst erproben muß – und es überdies mit einem problematischen Gegenstand zu tun hat. Wir hegen daher Hoffnung auf künftige Themenausstellungen. Wenn es Ausstellungen über Türklinken gibt, sollte auch eine Ausstellung über das Knarren von Türen möglich sein – an Vielfalt herrscht jedenfalls kein Mangel.

Ein Wort noch zu dem Basler Museum für Gestaltung. Da es kein an eine Sammlung gebundenes Kunstgewerbemuseum ist und kein Designmuseum, wo die schönen neuen Dinge präsentiert werden, kann es sich thematische Freiheit gönnen. Anstelle der tausendfach in Zeitschriften und Büchern aufgeworfenen Fragen von Gestaltung im engeren Sinne widmet es sich lieber den merkwürdigen Eigenschaften der Gegenstände, den oft unvermuteten Implikationen bei deren Gestaltung und Gebrauch. Thematisiert wird dann die „andere Seite“ der Objekte – im Falle der Ausstellung mit dem poetischen Titel „Die Tücke des Objekts“ ihre mitunter verheerenden Folgen (das Buch zu dieser Ausstellung, ein Leitfaden durch die Welt der Unglücke, hat sich im Nachttischbücherstapel zielstrebig einen Weg nach oben gebahnt).

Da die andere Seite der Gegenstände diesmal akustischer Natur ist, hat der Katalog naheliegenderweise die Form von Silberscheiben – was nicht nur viel handlicher als die üblichen Kataloge im Bruttoregistertonnenformat ist, sondern auch eine höhere Reproduktionsqualität ermöglicht. Daheim aufgelegt erklingen sie frisch und lebenswarm wie im Klangkabinett des Museums, diese „Bilder einer Ausstellung“.

„Geräusche“, Museum für Gestaltung Basel, Spalenvorstadt 2. Noch bis zum 26. Juni.