Karaoke-Disco ohne Strom

Eine Reise durch Osttibet, das die chinesischen Tourismusplaner mehr und mehr öffnen  ■ Von Klemens Ludwig

„Erlaubt ist, was bezahlt werden kann“, lautet offenbar das Motto der chinesischen Tourismusplaner, die damit einen neuen Boom ausgelöst haben. Vor allem in Golmund (Gormo) wird fleißig abkassiert. Der Endpunkt der chinesischen Eisenbahnlinie in der Provinz Qinghai ist der kürzeste und bequemste Landweg nach Lhasa. Nur 36 Stunden benötigt der Bus bis in die tibetische Hauptstadt. Das normalerweise billigste Verkehrsmittel kostet jedoch schon halb soviel wie der Flug von Chengdu (Sichuan). Auch von Nepal aus nutzen Tausende von Himalaya-Trekkern die Chance, über Land in Tibet einzureisen.

Die Königsroute ist neu geöffnet

Wer sehr viel Zeit und Geduld mitbringt, kann sogar wieder die Königsstrecke zurücklegen, die über 2.000 Kilometer lange Route von Chengdu nach Lhasa – sofern nicht die Straßen- und Witterungsverhältnisse einen Strich durch die Rechnung machen.

Eine Tagesreise hinter Chengdu beginnt der tibetische Kulturkreis. Die Stadt Kanding (tibetisch Dartsedo) war bis 1949 der tibetische Grenzort nach China. Inzwischen ist Dartsedo eine weitgehend chinesische Stadt mit allenfalls 20 Prozent tibetischer Bevölkerung.

Und doch gibt es auch hier noch Spuren des alten Tibet. Etwas östlich vom Stadtkern führt eine Straße zu zweien der drei noch verbliebenen tibetischen Tempel. Der erste nahe der Straße vermittelt nicht den Eindruck eines regen religiösen Lebens. Die meisten Bauten sind heruntergekommen; offenbar fehlt das Geld, um sie nach der Zerstörung der sechziger Jahre grundlegend zu renovieren. Selbst hier im Tempel dominieren zwei junge Chinesen, die uns selbstbewußt eine unaufgeforderte Führung bescheren, während sich die wenigen tibetischen Mönche auffällig im Hintergrund halten. Gegenüber vom Tempel steht eine Kaserne der Volksbefreiungsarmee. Böses darf man dabei nicht denken, versichern uns die Chinesen. Dieser Tempel sei durch die Soldaten besonders sicher. Das sagen sie nicht nur; das meinen sie auch so.

Uns hält es nicht lange, und wir steigen eine Anhöhe hinauf. 15 bis 20 Minuten dauert der Weg zu dem anderen Tempel, und doch ist es wie der Einstieg in eine andere Welt. Schon aus einiger Entfernung hören wir Hörner, Schellen, Gongs und melodische Wechselgesänge. Eine uralte religiöse Zeremonie wird im Hauptgebäude des Tempels abgehalten, und China scheint weit entfernt. Das Kloster beherbergt etwa 25 Mönche. Im Innenhof herrscht das geschäftige Treiben einer Baustelle. Offensichtlich haben die Menschen sich und ihre Kultur nicht aufgegeben.

Mehr noch als der Aufenthalt im Tempel wird die Weiterfahrt auf der Südroute nach Lhasa zu einer Reise in eine andere Zeit. Der Weg führt über eine grandiose Hochebene, die sich auf 5.000 Meter Höhe erstreckt. Selbst hier oberhalb der Baumgrenze wechselt das zarte Grün der Gräser mit violetten, blauen und roten Blumenfeldern. Hin und wieder taucht im Hintergrund ein Gletscher oder ein Bergsee auf. Auf diesen Höhen, wo die Temperaturen im Winter auf 40 Grad minus sinken, herrschen noch immer die Tibeterinnen und Tibeter. An den legendären Khampa-Nomaden scheinen vier Jahrzehnte Besatzung und Repression weitgehend folgenlos vorbeigegangen zu sein. Wie eh und je folgen sie ihren Yaks über die Hochebenen und schlagen dann und wann ihre Zeltlager auf.

Ganz im Bann der tibetischen Kultur erreichen wir schließlich Litang, ein Ort, der gegensätzlicher kaum sein könnte. Die Tibeter stellen noch immer die Bevölkerungsmehrheit. Im Tempelbezirk, der 1959 von der chinesischen Armee bombardiert worden ist, herrscht Pionierstimmung. Aus den Trümmern entstehen neue Gebäude, obwohl die finanziellen Möglichkeiten bescheiden sind. Das Engagement gerade der Jungen gleicht die fehlenden materiellen Mittel aus.

Nur einige hundert Meter entfernt im Zentrum der Stadt offenbart sich eine völlig andere Welt. Dort dominiert – zumindest akustisch – eine Karaoke-Disco, die sich unter der chinesischen Jugend großer Beliebtheit erfreut. Die modernen Errungenschaften haben im tibetischen Hochland jedoch ihre Tücken. Bisweilen fällt der Strom abends aus. Das enttäuschte Raunen, das dann durch die Reihen geht, ist noch im gegenüberliegenden Hotel deutlich vernehmbar. Von Litang aus geht es allmählich auf den Yangtse zu, die Grenze zur sogenannten Autonomen Region Tibet. Bald erreichen wir wieder die Baumgrenze und damit eines der Gebiete, in denen am rücksichtslosesten abgeholzt wird. In den Zeltlagern, die wir vom Weg aus sehen, leben keine Khampa-Nomaden, sondern Holzfäller mit ihren Familien. Die Folgen des Kahlschlags bekommen wir bald zu spüren. 100 Kilometer hinter Litang bedecken Schlammassen, die von den abgeholzten Hängen nicht gehalten werden konnten, die Straße. Ein Pkw ist darin steckengeblieben und blockiert für mehrere Stunden den Verkehr. Erst eine Raupe kann ihn befreien und Platz für die anderen machen.

Der Schlamm und die ökologischen Sünden

Doch das war erst ein vergleichsweise bescheidenes Hindernis. 20 Kilometer weiter ist für alle Autos die Fahrt nach Lhasa vorbei. Ein durch den Monsun angeschwollener Fluß hat die Straße auf einer Länge von hundert Metern vollständig weggespült. Die Aufräumarbeiten dauern mindestens drei Wochen.

Wir lassen uns nicht entmutigen, denn immerhin haben die Straßenarbeiter einen Trampelpfad in den Berg angelegt, auf dem Fußgänger den Erdrutsch umgehen können. Auf der anderen Seite existiert dann ein Pkw-Pendelverkehr bis zum nächsten Ort Batang. Wir ahnen noch nicht, welche Folgen der Erdrutsch dennoch für unser Vorhaben zeitigen wird.

Batang liegt erheblich tiefer als Litang; Luft und Klima sind entsprechend angenehmer zu ertragen. So ist der Ort ähnlich wie Kanding/Dartsedo eine Hochburg der Chinesen geworden, einschließlich einer großen Kaserne der Volksbefreiungsarmee. 1990/91 haben die chinesischen Besatzer den gesamten tibetischen Stadtkern abgerissen. Heute schmückt ein großer Platz mit einem monumentalen Heldendenkmal die Stadtmitte. Auf dem Denkmal setzt ein überdimensionaler Adler nach einem Sturzflug gerade zur Landung an. Vielleicht war der Architekt dieser Peinlichkeit ein heimlicher Sympathisant der Tibeter, der auf diese Weise darstellen wollte, wie brutal China das Land an sich gerissen hat. Um den Platz herum stehen chinesische Gebäude in pseudotibetischem Stil. Sie beherbergen Billardhallen, ein Kulturzentrum sowie Wohn- und Geschäftshäuser. Die neuen Herren in Batang fühlen sich sichtlich wohl.

Die Tibeterinnen und Tibeter sind buchstäblich an den Rand gedrängt. Ihre Siedlungen, oder was nach der Radikalsanierung davon übriggeblieben ist, ziehen sich in die Berge hinein, die Batang umgeben.

Das unerwartete Ende der Reise

Nun sind es nur noch 30 Kilometer bis zum Yangtse, dem angeblich größten Hindernis auf dem Weg nach Lhasa, denn an der Brücke sind in der Vergangenheit die Reisenden regelmäßig zurückgeschickt worden. In Folge der neuen Reisefreiheit scheint das aber kein Problem mehr zu sein. Ein Jeepfahrer bringt uns bis zum Yangtse. Ein kurzes Gespräch mit dem Brückenposten, dann öffnet sich die Schranke problemlos.

Auf der anderen Seite nimmt niemand Anstoß an uns. So leicht haben wir uns das nicht vorgestellt. Das Interesse an Devisen eröffnet dem Tibet-Tourismus derzeit ungeahnte Möglichkeiten. Doch allmählich werden wir uns eines anderen Hindernisses bewußt. Am Yangtse läuft im wahrsten Sinne des Wortes nichts mehr. Der Erdrutsch vor Batang hat den Durchgangsverkehr vollständig zum Erliegen gebracht. Zudem erfahren wir, daß die Straßenverhältnisse in der Autonomen Region eher noch schlechter sind. Es würde noch Wochen dauern bis Lhasa. Deshalb entschließen wir uns, nach Chengdu zurückzukehren und von dort aus das Flugzeug zu nehmen.