■ André Glucksmann über die Auseinandersetzung um die Begehung des 50. Jahrestages der Landung der Alliierten
: Kohl muß in die erste Reihe

Die Karten sind also offenbar verteilt, und der fünfzigste Jahrestag der Landung in der Normandie wird etwas von einem zufälligen Auszug aus dem Who's Who haben: Die Königinnen von England und Holland, der König von Belgien und der König von Norwegen, der Großherzog von Luxemburg, Clinton, Mitterrand, Walesa und ich weiß nicht wer noch, sie alle werden dabeisein – nur Kanzler Kohl nicht. Von Anfang an war Deutschland von den Feierlichkeiten ausgeschlossen. Es ist schon zehn Jahre her, daß der gleiche Vorgang (anläßlich des 40. Jahrestages des 6. Juni '44) eine diplomatische Verstimmung bewirkte, die dann durch das berühmte Händchenhalten von Helmut und François auf dem Friedhof von Douaumont (am 21. September '84) überwunden werden sollte – als könne das Gedenken an Verdun die Wunden heilen und die Alpträume verjagen, die der Zweite Weltkrieg hinterlassen hat. Nichts dergleichen – man hätte es seit zehn Jahren wissen müssen, daß der Stachel tief sitzt und immer noch schmerzt.

Diesmal zeigt sich die Bonner Regierung störrisch und will nicht am Katzentisch Platz nehmen. Sie lehnt Einladungen zu Feiern zweiter Wahl ab, die man ihr, widerwillig und im allerletzen Moment, noch angeboten hat. Die sozialdemokratische Opposition wiederum findet diese Verweigerungshaltung bedauerlich und wittert reaktionären „wilhelminischen“ Geist. Man solle endlich begreifen, daß „das Deutsche Reich untergehen mußte, damit das deutsche Volk befreit werden konnte“. Großartig! Aber geht diese Mahnung wirklich an die Adresse von Helmut Kohl?

Hinter den Wortgefechten der Vorwahlkampfzeit ist eine stille Übereinkunft zwischen den politischen Gegnern auszumachen. Wenn Karsten Voigt, der außenpolitische Sprecher der SPD, es als rückständiges Denken bezeichnet, keinen Unterschied zwischen den Resultaten des Ersten Weltkriegs (der militärischen Niederlage Deutschlands) und des Zweiten Weltkriegs (dem Sturz des Naziregimes) zu machen, wird ihm selbstverständlich klar sein, daß dieser Vorwurf zunächst das Land trifft, das für die Ausrichtung der Feierlichkeiten zuständig ist. Und der Gastgeber ist nun einmal Frankreich, also hat Frankreich die Zeichen der Zeit nicht verstanden und die einmalige Gelegenheit verpaßt, den Sturz des Dritten Reichs als einen Akt der Befreiung für ganz Europa zu würdigen.

Man muß sich für eine der beiden möglichen Interpretationen entscheiden.

Entweder markiert die Landung in der Normandie nur den Beginn der Eroberung Deutschlands, die zur Kapitulation und Besetzung des Landes geführt hat. Daraus folgt, daß man die Vertreter des heutigen Deutschland nur auffordern kann, an der Feier ihrer Niederlage teilzunehmen, entweder durch ihre Anwesenheit in demütiger Haltung oder durch ihre Abwesenheit, die dann zum Ausdruck bringt, daß die Deutschen auch in der dritten Generation danach noch geächtet bleiben und für schuldig erklärt werden sollen.

Oder am „Omaha Beach“ hat eine Befreiung ganz Europas, einschließlich Deutschlands, ihren Ausgang genommen, durch die überall eine demokratische Lebensweise eingeführt oder wiedereingeführt wurde, die auch den Kindern und Enkeln der Nazis zugute kam. Für die Mehrheit ist das auch heute eine erfreuliche Selbstverständlichkeit. Darin unterscheiden sie sich nicht von den Nachkommen der Anhänger des Marschall Pétain in Frankreich oder der Schwarzhemden in Italien.

In diesem Fall müßten also den GIs, den Tommies und den Soldaten der französischen Befreiungsarmee, die im Juni 1944 an den Stränden der Normandie gefallen sind, aus ganz Europa Blumengebinde gestiftet werden. Und das heutige, friedfertige, demokratische und erstmals wieder vereinigte Deutschland müßte an den Feiern teilnehmen – und zwar in der ersten Reihe. Damit würde für alle Zukunft bezeugt, daß die Landung der anglo-amerikanischen Streitkräfte vor allem die Überwindung des Faschismus bedeutete. Im Laufe eines halben Jahrhunderts verfestigen sich die Erinnerungen, und die Einzelheiten verblassen. Heute machen die Zeremonienmeister schon keinen Unterschied mehr zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Auf der einen Seite die „Alliierten“, auf der anderen die „Deutschen“ – kommt irgendwie immer auf das gleiche heraus.

Ich hatte das Glück, in eine Familie hineingeboren zu werden, in der jüdische Tradition, kommunistische Überzeugung und Widerstandshaltung vereinigt waren. Meine ältere Schwester hat als junges Mädchen antifaschistische Flugblätter an die Soldaten der Wehrmacht verteilt. Sie ist glücklich davongekommen, im Unterschied zu vielen anderen aus unserer Verwandtschaft. Aber weder damals noch später habe ich erlebt, daß man in der Familie keinen Unterschied mehr zwischen Deutschen und Faschisten gemacht hätte: das Schimpfwort boche zu gebrauchen, das ja seit 1914 allgemein im Umlauf war, konnte vielleicht als Ausrutscher in einer heftigen Diskussion entschuldigt werden, es galt jedenfalls als geschmacklos und politisch unverantwortlich.

„Ich wünsche allen Glück, allen, die überleben werden.“

„Ich sterbe ohne Haß auf das deutsche Volk.“

So hat Aragon Manouchians (Führer einer armenischen Widerstandsgruppe, von der Gestapo festgenommen, A.d.R.) letzte Worte, bevor ihn die Kugeln trafen, wiedergegeben. Sie wurden von vielen anderen nachgesprochen, die vor dem Erschießungskommando standen – kein Fremdenhaß, kein Chauvinismus.

Hinterher pochten die Kommunisten auf die Kollektivschuld der Deutschen. Und am lautesten schrien die Zuhältertypen und selbsternannten Widerständler.

De Gaulle war am Ende nicht bereit, alle über einen Kamm zu scheren. Er traf sich mit Adenauer und leitete die Versöhnung ein. „Eine außerordentliche Wende ..., die wir, von den Streitkräften des freien Frankreich, die wir vier Jahre lang gegen das Naziregime gekämpft hatten, damals uneingeschränkt guthießen!“ So äußert sich Pierre Drouin, Mitglied der FNFL seit Juni 1940, Im Figaro vom 10. März 1994. Und er zeigt sich empört über den heutigen Affront gegen die Deutschen: „Im Namen welcher Veteranen will man dem deutschen Bundeskanzler eigentlich verweigern, im Juni 1994 mit den anderen Staatschefs am Strand der Normandie zu stehen? Jedenfalls nicht in unserem Namen, nicht im Namen der Franzosen, die am 6. Juni 1944 dort gekämpft haben.“

Der Tag der Landung ist keine Angelegenheit der Normandie oder Frankreichs. Er hat schicksalhafte Bedeutung für den ganzen alten Kontinent gehabt und letztlich nicht nur den Untergang des Hitlerreichs, sondern auch des Sowjetimperiums eingeleitet – wobei Jazz und Technicolor und der Geist der Rebellion auch ihre Rolle spielten. Frankreich, als die gastgebende Macht, begeht einen geopolitischen Fehler, der bedenklich stimmt: Was soll bewiesen werden, indem man das neue Deutschland ausschließt, brüskiert und stigmatisiert? Auf welche finsteren Traditionen wird hier zurückverwiesen?

Aber ganz unmittelbar wird auch den Tapferen von damals schmerzliches Unrecht zugefügt von jenen, die sich doch angeblich zu ihren Ehren versammeln wollen. Die Soldaten der Alliierten, die auf den Stränden der Normandie gefallen sind, führte der Haß auf den Faschismus vorwärts. Sie kamen als Befreier, und nun würdigt man sie zu Siegern herab. Sie glaubten, die Menschheit vor einer Zerstörungswut zu retten, die alles bisher Gekannte übertraf (und mit der man sich noch heute auseinandersetzen muß). Diese Toten würden zum zweiten Mal begraben werden, wenn ihr Andenken untergeht im fernen Schlachtenlärm wiederkehrender Kriege gegen irgendwelche Erbfeinde ...

Wenn am 6. Juni 1994 ein Volk ausgeschlossen bleibt, wird der muntere Reigen der gewählten und gekrönten Häupter einfach schändlich. Wer die Erinnerung an die tatkräftige Befreiung hochhalten will, darf nicht zulassen, daß manchen der Befreiten und ihrer Nachkommen dieses Gedenken verwehrt bleibt. Sonst wird nur eine weitere sinnlose Zeremonie zur Feier einer militärischen Eroberung stattfinden.

Philosoph, lebt in Paris

(Übersetzung: Edgar Peinelt)