DDR-Richter vor Gericht

■ Prozeß gegen Hans Reinwarth beginnt heute / Ihm wird Rechtsbeugung und versuchter Totschlag vorgeworfen

Die Urteile, um die es vor dem Berliner Landgericht gehen wird, wurden zwar schon vor rund 40 Jahren gefällt. Doch dürfte der heute beginnende Prozeß gegen den ehemaligen Richter des Obersten Gerichts der DDR, Hans Reinwarth, das wohl bislang bedeutendste Verfahren dieser Art sein. Noch nie stand ein so hoher ehemaliger DDR-Richter vor Gericht. Zudem sind die Vorwürfe gravierend: Dem 73jährigen legt die Staatsanwaltschaft versuchten Totschlag, Rechtsbeugung und Freiheitsberaubung wegen Mitwirkung an Verurteilungen zum Tode oder zu langjährigen Haftstrafen zur Last.

Mit dem Prozeß, der voraussichtlich mehrere Monate dauern wird, werden aber auch erstmals die Hintergründe der stalinistischen Strafjustiz in der DDR der 50er Jahre durchleuchtet. Es war eine „Strafjustiz im Parteiauftrag“, in der Richter als „politische Funktionäre“ agierten, wie der Historiker Karl Wilhelm Fricke schreibt. In dieser Zeit inszenierte die SED politische Schauprozesse, um die Opposition mundtot zu machen.

Das Oberste Gericht der DDR und auch die Unterinstanzen beriefen sich bei ihren Urteilen immer wieder auf den berüchtigten Artikel sechs der DDR-Verfassung, in dem die sogenannte Boykott- und Kriegshetze als Verbrechen bezeichnet wurde. Mit Hilfe des Artikels sechs wurden, wie Fricke schreibt, unterschiedliche Handlungen bestraft – etwa das Anbringen freiheitlicher Losungen, die Aufforderung zum Streik, das Eintreten für freie Wahlen oder auch Äußerungen über den Tod Stalins, verbunden mit der Hoffnung auf eine politische Wende.

Auch die Verurteilungen wegen angeblicher Spionage, die jetzt dem angeklagten Ex-Richter Reinwarth zur Last gelegt werden, beruhen auf dieser Bestimmung. Für die Staatsanwaltschaft ist dies schon allein für den Vorwurf der Rechtsbeugung ausreichend, da der Vorwurf der Spionage in der Bestimmung gar nicht erwähnt wird. Artikel sechs habe auch keine Aussage über die Art der Strafen enthalten.

Dennoch wird in dem Prozeß ein Nachweis der Schuld für die Anklage möglicherweise schwer sein. Reinwarth, der seit Monaten in Untersuchungshaft sitzt, könnte sich darauf berufen, bei den Urteilen jeweils dagegen gestimmt zu haben.

Ähnlich hatte sich schon im ersten Waldheimer Prozeß der Angeklagte eingelassen. Das Resultat: Die Anklage mußte den Vorwurf des Totschlags fallenlassen. Das Verfahren endete mit einer Bewährungsstrafe. Ulrich Scharlack/dpa