Kino und Kathedrale

Auch der Film hat eine Aura: Ein Geistergespräch zwischen Walter Benjamin und Erwin Panofsky  ■ Von Stephan Wackwitz

Anfang Mai 1936 erschien in der Zeitschrift für Sozialforschung – in einer französischen Übersetzung von Pierre Klossowski – Walter Benjamins berühmter Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, ein Text, dem das Institut „große propagandistische Bedeutung“ (Horkheimer) beimaß und dessen verwirrende, zwischen Mystik, Surrealismus, Kulturkonservatismus und Einflüssen der Kulturtheorie Leo Trotzkis schwankende Begrifflichkeit seit 1968 einen kanonischen Einfluß auf die – folgerichtig meist ziemlich verwirrte – Diskussion über Film, Revolution, „Aura“ und dergleichen ausgeübt hat.

Einen Monat nach dem Erscheinen von Benjamins Aufsatz publizierte Erwin Panofsky, der schon 1931 nach Amerika ausgewandert und Fellow des Institute of Advanced Study geworden war, die erste Version einer Untersuchung, die zumindest in Amerika fast ebenso berühmt geworden ist wie der „Reproduktionsaufsatz“ und jetzt vom Campus-Verlag in einer deutschen Übersetzung des trefflichen Helmut Färber als bibliophil gestaltetes Buch vorgelegt wird – zusammen mit dem zumindest im letzten, titelgebenden Absatz verblüffenden Nebenwerklein „Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce- Kühlers“, mit einem Lebensbild Panofskys aus der Feder seines Schülers William S. Heckscher und einem Essay über „Panofskys Humor“ von Irving Lavin, seinem Nachfolger am Institute for Advanced Study.

Enttäuschte Annäherungsversuche

Ob Panofsky Benjamins Arbeit bei Abfassung seines Aufsatzes gekannt hat, muß dahingestellt bleiben – möglich wäre es. Denn bekanntlich hat Benjamin schon während der Arbeit an seiner Habilitation Kontakt mit dem Warburg-Institut aufgenommen, dessen Gründer er bewunderte – und das Gespräch mit Saxl und Panofsky gesucht, deren monumentaler „Melencholia“-Studie er aus seiner Sicht einiges hinzuzufügen und entgegenzusetzen hatte.

Panofsky hatte sich den Annäherungsversuchen Benjamins seinerzeit widersetzt. Man weiß jedoch, daß – rund zehn Jahre später und jenseits des Atlantik – der „Reproduktionaufsatz“ bei Panofskys Freund Meyer Shapiro intensive Anteilnahme erweckt hatte – wie übrigens auch bei der Filmabteilung des MoMA, zu der Panofsky enge Verbindungen unterhielt. Horkheimer erwähnt in einem Brief an Benjamin sogar ein Interesse bei Forschungsabteilungen der Filmindustrie, das sich freilich nicht konkretisiert zu haben scheint.

Wie dem auch sei: „Style and Medium in Moving Pictures“, wie Panofskys Essay seit der Drucklegung einer zweiten Fassung 1937 heißt, läßt sich lesen als apokryphe Aufnahme des in Hamburg verweigerten Gesprächs zwischen Panofsky und Benjamin – auch wenn es nun nicht um die Allegorie Dürers geht, sondern um die illegitime, neue, aber beide Autoren als Leitgattung der Gegenwart interessierende Kunst des Films.

Es ist heute nur noch schwer nachzuvollziehen, eine wie anrüchige Sache das Kino noch bis Mitte der zwanziger Jahre gewesen ist: eine Sphäre, in die sich Gebildete wagten „mit dem typischen Gefühl selbstbewußter Herablassung, mit dem man sich in fröhlicher Gesellschaft in die folkloristischen Niederungen von Coney Island begibt oder in Europa in einen Jahrmarktrummel stürzt“.

Zehn Jahre später, 1936, war das einstige Spelunkenvergnügen bereits so weit legitimiert, daß es als „genuine Volkskunst“ (Panofsky) erkennbar wurde, zudem als der genaueste Ausdruck eines Zeitalters der Masse und der Technik als „die einzige Kunst, deren Entwicklung die Menschen von heute von Anfang an miterlebt haben“ – Bestimmungen, die sich bei Panofsky und ganz ähnlich auch bei Benjamin finden.

Film als Kunst und Anti-Kunst

Die Differenz zwischen den beiden Theoretikern – es ist vielleicht nicht zu gewagt, ihren Dissens als einen zwischen den beiden bedeutenden deutsch-jüdischen Forschungsprojekten der zwanziger Jahre zu betrachten, als eine vergessene Debatte zwischen der Frankfurter Schule und dem Warburg-Institut – beginnt gerade hier mit Panofskys und Benjamins grundverschiedenen Ansichten über den Kunstcharakter des neuen Mediums.

Vereinfacht lassen sich diese Ansichten so zusammenfassen: für Benjamin liegt das Bedeutende der neuen Kunstform in ihrer revolutionären Sprengkraft: darin, daß der Film das System der legitimen Kunst liquidiert. Film ist für Benjamin nicht einfach nur eine neue Kunstform, sondern in gewisser Weise das Ende der Kunst überhaupt, „the art to end all art“, was im Reproduktionsaufsatz anhand der Zertrümmerung des „Kultwerts“ und der „Aura“ traditioneller Kunst vorgeführt wird, aus deren Zerfallsformen – der „Zerstreuung“, dem „Choc“, der „simultanen Kollektivrezeption“ die Elemente einer revolutionären Zukunftskunst hervorgehen sollten.

Der Kunsthistoriker Panofsky dagegen war als Schüler Warburgs Spezialist für das Eindringen illegitimer Künste und Denkformen – der Astrologie, der gnostischen, neuplatonischen und kabbalistischen Spekulation, der mittelalterlichen und renaissancezeitlichen „Ars Memoria“, der Humoralpathologie, der Alchemie – ins tradierte System der Hochkunst. Und er hat das bei der Untersuchung

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dieser kulturgeschichtlichen Arrivierungsvorgänge angesammelte Wissen seiner Forschercommunity – ironisch-witzig und durch das amerikanische Universitätsklima von europäischen Schreib- und Denkhemmungen befreit – dazu aufgewendet, den Platz zu bestimmen, den der Film neben Pantomime, Theater, Roman, bildender Kunst und Musik einzunehmen begann. Überlegen war er den Ansichten Benjamins und den Einschätzungen des Instituts für Sozialforschung insofern, als er weder die revolutionären Illusionen noch die kulturkonservativen Ressentiments Benjamins, Horkheimers und Adornos teilte.

Eine neue Kunst als Ende aller Kunst

Denn eine „verschwiegene Orthodoxie“ (Adorno) herrschte in der kritischen Theorie nicht nur in bezug auf den Marxismus, sondern auch in bezug auf die traditionelle Hochkultur. Sogar der dezidiert revolutionäre Kunstbegriff Benjamins im „Reproduktionsaufsatz“ (an dem Adorno und Horkheimer durch eine intensive Korrespondenz ja gleichsam mitgeschrieben hatten) gewinnt seine politischen Konsequenzen ja eigentlich daraus, daß Benjamin die Heraufkunft einer neuen Kunstform mit dem Untergang der Kunst überhaupt verwechselt.

Bei Adorno, der zu jener Zeit übrigens an seinem berüchtigten Jazz-Aufsatz arbeitete, und bei Horkheimer sollte dieser im Kern konservative Kunstbegriff dann nach Benjamins Tod im kalifornischen Exil, nachdem die revolutionäre Perspektive einer geschichtspessimistischen gewichen war, in den Untersuchungen zu Kulturindustrie einerseits, einer Art Metaphysik der autonomen Kunst andererseits zu sich selbst kommen.

Einige Formulierungen der an klassischen Sätzen reichen Untersuchung Panofskys lesen sich wie Spott über den Kulturkatastrophismus der kritischen Theorie: „Man kann sich vorstellen, daß, als die Höhlenbewohner von Altamira ihre Büffel in natürlichen Farben zu malen begannen, statt nur Konturen einzuritzen, die koservativen Höhlenbewohner das Ende der Kunst des Paläolithikums voraussagten.“ Oder: „Sicher ist kommerzielle Kunst stets in Gefahr, als Hure zu enden, aber ebenso sicher ist nichtkommerzielle Kunst in Gefahr, als alte Jungfer zu enden.“

Und wie eine provokative Widerlegung der These vom Zerfall der Aura des Kunstwerks, welche ja, wie Benjamin schrieb, „niemals durchaus von seiner Ritualfunktion sich löst“, wirkt Panofskys Bestimmung des Films als das „moderne Äquivalent der mittelalterlichen Kathedrale“: „Die Rolle des Produzenten entspricht, mehr oder weniger, der des Bischofs oder Erzbischofs; die des Regisseurs jener des leitenden Baumeisters; die des Drehbuchautoren jener des scholastischen Beraters, der das ikonographische Programm aufstellt; und die der Darsteller, Kameraleute, Cutter, Toningenieure, Maskenbildner und der verschiedenen Techniker der Rolle jener, deren Arbeit die äußere Realität des ganzen Werkes vorbereitet, von den Bildhauern, Glasmalern, Bronzegießern, Zimmerleuten und erfahrenen Maurern zurück bis zu den Steinbrechern und Holzfällern.“

Gummibärchen und Dosenbier

Viel Sorgfalt wendet Panofsky überhaupt auf den Nachweis, daß der Film eben in der Tat das hat, was bei Benjamin „Aura“ heißt. Und jeder Kinogeher weiß es ja aus eigener Erfahrung: in einer schönen Sommernacht im Klappsitz ruhend in der Pariser „Pagode“, im Londoner „Electric“ oder in einem der alten Familienbetriebe in Neukölln oder Nordschwabing den Bildern vielleicht von Antonionis „Blow up“ folgen, Gummibärchen kauen und mit Dosenbier nachspülen – das heißt eben die Aura dieses Films (und die Aura seiner Entstehungszeit und der seither verflossenen Zeiten) atmen. Übrigens hat Benjamins Aufsatz noch die hartgesottensten Benjaminianer schon in den frühen siebziger Jahren nicht davon abgehalten, von „Kultfilmen“ zu reden und den Ausverkauf von Kiezkinos in Wendungen zu beklagen, denen nur das Wort „Aura“ fehlte, um den performativen Selbstwiderspruch komplett zu machen.

„Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers“, wie gesagt, ist ein gegenüber „Style and Medium in Motion Pictures“ weniger gewichtiger Aufsatz Panofskys aus der gleichen Zeit, der von der Behauptung lebt, in der britischen Kunst seien klassizistisch-strenge und romantisch-krause Stilgesinnungen deutlicher und synthetischer miteinander verschränkt als auf dem Kontinent – eine Untersuchung im Stil traditioneller kunsthistorischer Völkerpsychologie und in der Tradition der von Nietzsche inspirierten Kodierung von Formphänomenen entlang der Dionysisch-apollinisch-Unterscheidung, die ja auch bei Warburg eine große Rolle spielt.

Wie aus dem Warburgschen „Mnemosyne“-Bilderatlas entlehnt wirkt auch die in der Tat geniale Beobachtung, daß sich im Rolls-Royce-Kühler die palladinische Strenge der einer dorischen Tempelfassade gleichenden Front aus vertikalen Kühlergrillstangen in einem harmonischen und kunstgeschichtlich wirklich hochsymbolischen Gegensatz befindet zu der beschwingt-mänadenhaft bewegten „Nympha“-Schutzmarke, die dem britischen Fahrer (Chauffeur muß es wohl eher heißen) vielleicht ja doch wesentlich stilvoller und alteuropäisch bedeutsamer voranfliegt als der Stuttgarter „gute Stern auf allen Straßen“ dem kontinentalen Millionär.

Womit übrigens nahegelegt wäre, daß nicht nur Filme, sondern auch Autos „Aura“ aufweisen können. Und – Bücher: Das vorliegende ist schön gebunden und gedruckt, hat ein neckisches hellblaues Lesebändchen und sehr erhellend ausgewählte Fotos, von denen allerdings nicht angegeben ist, ob sie auch schon Teil der jeweiligen Erstveröffentlichungen gewesen sind. Die abrundenden biographischen Texte sind amüsant und informationsreich. Es wird Benjamin- ebenso wie Panofsky- und Warburg-Interessierten sehr empfohlen.

Erwin Panofsky: „Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce- Kühlers“. Campus Verlag Frankfurt/New York (Mit den Editions de la Fondation Maison des Sciences de l'Homme, Paris) 1993, 170 Seiten, über 40 Abb., 68 DM