■ Interview mit dem Soziologen Ulrich Beck über die Krise der Institutionen und die Kraft der Gesellschaft
: Die Politik ist tot, es lebe die Politik!

taz: Noch reden viele von Politikverdrossenheit, da sagen Sie, die Politik kehre in die Gesellschaft zurück. Was meinen Sie damit?

Ulrich Beck: Ich meine das in einem sehr konkreten Sinne. Nach dem Zusammenbruch der Ost- West-Weltordnung sind auch die zentralen Institutionen des Ex- Westens, besonders die Parteien, inhaltlich leer geworden. Ich würde sogar zugespitzt sagen: Es gibt keine CDU mehr, keine SPD, keine Grünen und keine FDP.

Was dann?

Es gibt nur noch Fiktionen gleichen Namens. Die zentrale politische Auseinandersetzung geht darüber, wie diese Institutionen mit Inhalten gefüllt werden können. Am meisten öffentlich diskutiert worden ist es bisher am Beispiel der Bundeswehr, die ohne Feind keinen Auftrag mehr hatte. Jetzt wird vom weltweiten Einsatz bis hin zum Einsatz gegen Flüchtlingsströme alles als Angebot von Aufgaben gehandelt – und ich vermute, gelegentlich wird man auch darauf kommen, daß man die Bundeswehr noch für die Verkehrssicherung brauchen könnte. Was mich irritiert, ist, daß gerade die Intellektuellen, insbesondere die alte Linke, offenbar noch unter einem solchen Schock stehen, weil ihr die Grundlagen entzogen worden sind, daß sie nicht erkennen, in welch hochpolitischen Zeiten wir leben. Denn die Grundlagen der bisherigen politischen Ordnung stehen zur Disposition.

Wenn das System so morbide ist, wie kehrt dann die Politik in unsere Gesellschaft zurück?

Der klassische Politikbegriff bezieht sich ausschließlich auf das politische System. Die Gesellschaft ist eigentlich in andere Logiken eingebunden. Ich sage, daß viele Grundentscheidungen der gesellschaftlichen Entwicklung gar nicht innerhalb, sondern außerhalb des politischen Systems fallen. Das ist beispielsweise für die Entscheidung über technisch-wirtschaftliche Entwicklungen der Fall. Gentechnologie und Fortpflanzungsmedizin werden ja an den Parlamenten insofern vorbeientschieden, als daß sie aus den Labors kommen und die Parlamente sich erst einmal darüber informieren müssen, was geschieht.

Weitere Entscheidungen dieser Art gibt es auch in der Privatsphäre, wo die bisherigen sozialen Rollenmuster und Rezeptbücher nicht mehr greifen und wir unfreiwillig in eine experimentelle Phase übergegangen sind: Wie koordiniert man zwei Karrieren, oder zwei Ausbildungskarrieren, Kinderkriegen und die Mobilitätserfordernisse? Dafür hat niemand mehr ein Patentrezept, und das bedeutet, daß auch hier vielfältige Entscheidungen getroffen werden. Subpolitik ist nicht zu verwechseln mit Parteipolitik. Mein Kollege Anthony Giddens spricht von life politics und meint die „Politisierung des Lebens“.

Ihren Begriff der „Subpolitik“ könnte man auch so verstehen, daß die Leute sich wieder mehr einmischen wollen. Aber kann dies Ersatz für die „große“ Politik sein?

Wenn man Politik als Handeln im öffentlichen Raum zur Wahrnehmung bestimmter politischer Optionen interpretiert, Sozialismus versus Markt etc., dann glaube ich tatsächlich, daß die alten Polarisierungen zurückgehen. Das spiegelt sich auch in der Politikverdrossenheit wider. Die Vorstellung, daß man sich in seiner ganzen Existenz einer Partei zugeordnet fühlt, wird zum Extremfall. Man wird in der einen Angelegenheit grün, in der nächsten konservativ votieren. Wir haben alle Elemente des politischen Spektrums in Teilaspekten unserer Selbstidentifikation und unserer politischen Option präsent, und sie lassen sich nicht mehr in die großen parteipolitischen Lager einordnen. Daraus ergibt sich eine gewisse Distanzierung vom politischen System.

Trotzdem stellen Sie die Institutionen nicht in Frage.

Als Soziologe bin ich zunächst einmal Diagnostiker! Es gibt natürlich angesichts der Parteienverdrossenheit große Vorbehalte gegen die politischen Parteien, und ich würde sagen, daß wir in der BRD gar nicht so weit weg sind von italienischen Verhältnissen. Die Diagnose lautet: Die Institutionen sind viel labiler, als sie sich geben. Das bedeutet, daß sie auch viel politischer sind – im Inneren als auch im Äußeren.

Man kann das auf die Grünen anwenden. Sie sind letztlich Kinder des Kalten Krieges. Im politischen System gab es kaum Bewegungsmöglichkeiten, weil die Antworten weitgehend festgelegt waren durch den Ost-West-Konflikt. Und als Gegenbewegung gab es die außerparlamentarischen Gruppen, die sich des Umweltthemas annehmen konnten. Das ist eine gewaltige Erfolgsgeschichte der Grünen. Der Kern der Grünen- Politik ist aber nach 1989 in vielen Bereichen fraglich geworden. Bisher hat man sich sehr stark auf den Naturbegriff verlassen, von Naturzerstörung gesprochen und die Rettung der Natur zum Programm erhoben. Die Vorstellung, daß man den Naturbegriff als Norm benutzen könne, ist jedoch naiv. Dies bricht in dem Maße auf, wo den Grünen der erste Schwung durch ihren Erfolg genommen ist und man sich fragt: Wie macht man eigentlich eine attraktive und interessante Politik, wenn das Thema einerseits durchgesetzt, aber andererseits nicht mehr nur ein Thema der Grünen ist und es jetzt darauf ankäme, eine Strategie zu entwickeln, die nicht nur sagt: „Wir wollen Natur bewahren“? Wir haben es mit einer stark individualisierten Gesellschaft zu tun, die andererseits um Gemeinsamkeitsdefinitionen ringt. Ich meine, daß man dieses Grünen-Thema politisch-strategisch nutzen könnte. Das ist die „Erfindung des Politischen“, von der ich immer rede. Statt nur technisch oder moralisch oder in einer eigenartigen Verknüpfung zwischen beidem zu argumentieren, käme es darauf an, die Strömungen, die präsent sind, neu zu kombinieren und zuzuspitzen.

Das Ökologiethema ist auch ein konservatives Thema. Man will etwas bewahren in einem ganz ursprünglichen Sinne. Dieser konservative Pol steht doch in hartem Widerspruch zu dem, was sich heute als konservativ gibt. Die Konservativen sind ja miserable Konservative. Die setzen auf den Markt, doch der ist der eigentliche Zerstörungsmechanismus. Es wäre ein Programm denkbar, wie dies etwa Al Gore versucht: eine Kombination aus sozialistisch-emanzipatorischen Traditionen, übrigens mit religiösen und konservativen Momenten, einem Schuß Machiavellismus (eine Prise davon täte den Grünen gut!!) und einer Prise Marktwirtschaft, welche die Interessen zwischen Markt und Macht, die auch im Ökologiethema stecken, bündelt zu einer wirklichen politischen Kraft. Das ist möglich.

Ließen sich Ihre Vorschläge in diesem politischen System überhaupt umsetzen?

Das System besteht gar nicht! Es ist eine einzige große Illusion. Wir leben in einer Zeit, wo das System durch Handlungen und Wahrnehmungen reproduziert wird und viel größere Entscheidungsspielräume durch eine andere Interpretation der Situation möglich wären. Die ganze fatalistische Interpretation der Linken und alle anderen skeptischen Ansätze sind völlig irritierende Selffulfilling prophecies. Wir haben es mit einer offenen politischen Situation zu tun. Alle Diskussionen über das Ende der Politik sind Relikte einer vergangenen Interpretation von Politik, die in den Köpfen weiter regiert und nur deswegen real wird.

Ist das Hypothese, oder haben Sie empirische Beweise?

Ich bin viel herumgekommen mit meinen Thesen; habe mit Gewerkschaftsvertretern und Managern etwa der chemischen Industrie gesprochen und immer wieder feststellen können, wie stark in den Institutionen bereits Auseinandersetzungen laufen über die Grundlagen der Institutionen, wie tief die Verunsicherung bis ins Management reicht. Ich habe gesehen, mit welcher Irritation etwa ein Chemiekonzern kleine Aktivitäten von Bürgergruppen auf den Nordseeinseln, die eine chemiefreie Zone ausrufen, wahrnehmen. Der Riese zittert vor der Bürgergruppe. Gerade hinter verschlossenen Türen wird umgedacht, besonders in der Wirtschaft.

Wie könnte man wieder Lust an Politik schaffen?

Ich würde die Diagnose nicht teilen, daß die Lust am Politischen nicht vorhanden ist. Man sagt immer, die Gesellschaft löse sich in ihre Bestandteile auf, atomisiere sich zur Ego-Gesellschaft. Das ist eine oberflächliche Diagnose. Es gibt sehr viel moralisches Engagement, sehr viel Suche nach Gemeinsamkeit und das Bemühen, diese Gemeinsamkeit zu definieren. Sie paßt nur nicht in die alten sozialen Schablonen hinein.

Sie sagten, die Gesellschaft ringe um neue Gemeinsamkeiten, andererseits aber schwindet die Solidarität.

Solidarität ist nicht etwas, was man nach einem bestimmten Schema abrufen kann, das war unsere bisherige Vorstellung. Wir haben über Solidarität immer nur deduktiv nachgedacht. Da gab es bestimmte Institutionen, die diese erzeugen sollten. Oder: Da gibt es eine Klasse oder das Gemeinwohl, denen sich die Individuen unterordnen. Doch die Vorstellung, daß man ohne Zustimmung der Individuen Solidarität abverlangt, ist vorbei. Wenn es wieder zu Formen von Solidarität und Gemeinsamkeit kommen soll, dann nur durch diese zerstückelten vielfältigen und nicht mehr auf irgendwelche Summen und gemeinsamen Interessenlagen festzulegenden individualisierten Bilder von Gemeinsamkeiten hindurch. Das ist ein sehr mühseliger Prozeß. Interview: Corinna Emundts

Autor von u.a. „Die Risikogesellschaft“ und „Die Erfindung des Politischen“ (1993)