Ewiger Antisemitismus

■ Mit dem Anschlag von Lübeck mußte gerechnet werden

Seit Jahrzehnten ist das Klima in Deutschland latent antisemitisch. Auch seit der Vereinigung hat sich dies kaum verändert – mit der Ausnahme, daß die Zahlen in Ostdeutschland deutlich unter den westdeutschen liegen. Trotzdem haben nach wie vor die Untersuchungen aus den 70er Jahren Bestand, die der Kölner Soziologe Alphons Silbermann anstellte. Er kam damals zu dem Ergebnis, daß 30 Prozent aller Westdeutschen latent antisemitisch eingestellt sind, 15 Prozent der Bevölkerung zählte er zu den offenen Antisemiten. Auch die neueste Studie des Meinungsforschungsinstituts „Emnid“ vom Februar zeigt ein kaum verändertes Einstellungsmuster. Demnach denken 44 Prozent der Westdeutschen, daß die „Juden den Holocaust für ihre eigenen Zwecke ausnutzen“.

Dieser Zahlen gewärtig, verwundert es Julius H. Schoeps, Professor für Neuere Deutsche Geschichte an der Universität Potsdam, nicht, daß in Lübeck Brandsätze in eine Synagoge geworfen werden. Mehr wundern würde es ihn, wenn in diesen Tagen nichts passiert wäre. Schließlich läuft der Film „Schindlers Liste“ in den Kinos. Ähnliche Reaktionen und antisemitische Anschläge hat Schoeps noch von 1978 in Erinnerung. Als damals im Fernsehen der Film „Holocaust“ ausgestrahlt wurde, schändeten Antisemiten in der gleichen Woche 17 jüdische Friedhöfe. Es gab Anschläge auf Fernsehmasten, antisemitische Parolen tauchten zuhauf auf.

„,Schindlers Liste‘ könnte man als neuen Auslöser für die vorhandene Latenz betrachten.“ Schoeps warnt vor der Erklärung, den Anschlag von Lübeck in die Kategorie „rechtsradikal“ zu stecken. Antisemitische Anschläge könnten ebenso von SPD-, FPD- und CDU- Anhängern oder auch von einem Grünen verübt werden. „Antisemitisches Denken und Handeln hat nichts mit der politischen Zugehörigkeit zu tun.“ Vor einigen Jahren untersuchte Schoeps an der Duisburger Universität Schändungen jüdischer Friedhöfe. In den Polizeiberichten hieß es: unpolitische Taten. „Wir haben lange gerätselt, warum. Dann fanden wir heraus, daß die Behörden Taten nur dann als antisemitisch bezeichnen, wenn ein eindeutiger rechtsradikaler Hintergrund nachweisbar war.“ Das sei ein viel zu enger Begriff des Politischen.

Antisemitismus sei wie eine Krankheit, die in Wellen auftritt, etwa gleich einer Grippeepidemie. Wie aber die Diskussion um den Antisemitismus wachhalten, ohne ein breites Projektionsfeld mit Handlungsmöglichkeiten zu bieten? Schoeps' knappe Antwort: Einen ausgesprochenen Antisemiten könne man selbst durch Aufklärung nicht bekehren. Resignative Worte von jemandem, der im vergangenen Jahr die grandiose Ausstellung „Jüdische Lebenswelten“ in Berlin konzipiert hat?

Schoeps sieht im Erfolg der Ausstellung zu dem Anschlag von Lübeck keinen Widerspruch. Solange sich antisemitische Stereotypen halten können, in Bildern, Liedern, Texten von einer Generation an die nächste weitergegeben werden, bleibe der Deutsche latent judenfeindlich.

Für Schoeps ist die Frage durchaus berechtigt: Verfestigt man mit einer solchen Ausstellung nicht die Bilder und Stereotypen der Antisemiten? Was kann man tun, um solche Vorstellungen zu durchbrechen? „Indem man sie zeigt und darüber redet. Vor allem müssen wir aufhören, die Geschichte der Juden allein mit Auschwitz zu verbinden.“ Deutsche Schulbücher zeigten eben nicht, daß es im 19. Jahrhundert eine lange Phase des „friedlichen Miteinanders“ gegeben hat. So verfestigen sich negative Interpretationsmuster. roga