Transzendenz des Klopses

■ „Herr Paul“ von Tankred Dorst in den Kammerspielen des Deutschen Theaters

Ein Schmerbauch wie eine Siegesfahne. Der ihn vor sich her trägt, hat ihn der Gesellschaft abgetrotzt, dem Zwang zur Agilität, zur Gesundheit. Er hätte jeden Beruf ergreifen können und hat einfach nein gesagt und sich aufs Sofa gelegt, und da liegt er. Nützlichkeit hat er nicht nötig, er ißt, was er kriegen kann, schont seine Füße, philosophiert, wenn es sein muß – und stört.

„Wer lebt, stört“, sagt Herr Paul und geht zur Türe hinaus. Zurück läßt er Helm und Lilo. Helm, der die stillgelegte Seifenfabrik geerbt hat, die einst Pauls Vater gehörte und in der Paul mit seiner Schwester notdürftig haust. Helm will eine Großwäscherei daraus machen, dazu müssen Paul und seine Schwester Luise ins Vorderhaus umziehen. Aber sie wollen nicht. Paul geht nicht weit, er kommt wieder. Helm schlägt mit dem Beil auf ihn ein. Paul steht wieder auf. Und bleibt. Am Ende des Stücks von Tankred Dorst steht ein Ausrufungszeichen. Es müßte ein Gedankenstrich sein: Paul schläft, Luise hört sich eine Arie an, und Helm ist nicht weiter als zuvor. Paul ist der nicht wegzuorganisierende Rest in der Geschichte, ein Fragezeichen hinter jedem Muß.

Nach der Hamburger Uraufführung von Jossi Wieler im letzten Monat hat jetzt Michael Gruner dieses Oblomow-Stück inszeniert. Kurt Böwe spielt den Paul, eine erstklassige Besetzung. Er hat die komische Gelassenheit desjenigen, der aus Überdruß wieder naiv geworden ist. Über den dicken Backen blinzeln seine Augen mit müder List und Melancholie zugleich. Und wie graziös er seinen massigen Körper bewegt... Hört er wirklich zu, so streckt er entzückt ein Bein von sich weg; wenn er über die Bühne läuft, so ist es, als schwebe er – die Transzendenz des Klopses. Böwe ist grandios, er trägt die Inszenierung, assistiert von Christine Schorn, die herrlich spätmädchenhaft, kauzig und zerstreut die Schwester Luise spielt. Das läuft wunderbar von alleine.

Daniel Morgenroth als Helm und Petra Hartung als seine Freundin Lilo hingegen sind von der Regie von Anfang an zu hoch angesetzt worden. Helm verzweifelt schon an Paul, noch bevor er ihn überhaupt gesehen hat. Morgenroth ist gekünstelt jovial, mit einem Kick ins Hysterische, man erkennt diesen Schauspieler gar nicht wieder. Die Figur der Lilo ist eine Grenzgängerin. Auch naiv, aber oberflächlich. Auch mit Herz, aber ein Kind der Schnelligkeit. Petra Hartung macht daraus einen kleinbürgerlichen Nina-Hagen-Verschnitt, versucht hölzern und angestrengt, aus dem Rahmen zu fallen – „hey Alter“ mit grünem Samtkleidchen. Das geht in keinem Augenblick auf und enerviert ganz fürchterlich. Udo Kroschwald als Helms zielstrebiger Kompagnon in spe ist hingegen zuverlässig in seiner Charge; überaus glaubwürdig auch Stefanie Stappenbeck als geistig behindertes Mädchen Anita, das mit Paul in einer lüstern-liebevollen Verbindung steht.

Michael Gruner ist wohl eher ein Regisseur fürs Episodische, wie man in „Don Juan kommt aus dem Krieg“ im gleichen Haus noch sehen kann. Zwischentöne und Entwicklungen scheinen ihm fremd zu sein. Da wird mit Hochdruck vom Blatt inszeniert, Geschichten hinter den Zeilen gibt es keine. Nur bei Böwe. Er ist nicht nur der Ostler, der sich bockig dem neuen Hausbesitzer aus dem Westen entgegenstellt, was Gruner mit einer alten, noch nicht blauen Ausgabe der Neuen Zeit andeutet, die er in der Fabriketage von Peter Schulz plaziert hat. Er ist nicht nur ein mahnender Fleck aus der Vergangenheit, nicht nur Opfer, sondern in all seiner Passivität auch aggressiv, ein Kinderfummler und brüderlicher Parasit. Er ist die Fettzelle im gesellschaftlichen Muskel, gegen ihn hilft keine Diät. Petra Kohse

Nächste Aufführungen am 30.3., 4. und 13.4., 19.30 Uhr, Kammerspiele des Deutschen Theaters, Schumannstraße 13a, Mitte.