Der Startschuß zur „Safariforschung“

Im Wettrennen um einen Aids-Impfstoff beginnt die nächste Etappe / Die Weltgesundheitsorganisation hat erste Impfversuche in Ländern der Dritten Welt beschlossen / Die ethischen Probleme bleiben weitgehend ungelöst  ■ Von Andreas Sentker

Im Frühjahr 1993 wird in Berlin der tausendste Aids-Tote gemeldet. Zwölf Jahre nachdem die ersten Meldungen die Öffentlichkeit entsetzten, ist die Krankheit in der Bundesrepublik zur Normalität geworden, kaum jemand nimmt die Zahlen noch zur Kenntnis. Während laut Statistik der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vor allem in den armen Regionen der Welt die Infektionsraten unaufhaltsam zunehmen, machen in den Industrieländern nur noch die Wissenschaftler Schlagzeilen. Immer neue Berichte über aussichtsreiche Impfstoffentwicklungen und Therapiechancen treiben ein makabres Spiel mit den Ängsten und Hoffnungen der Betroffenen. Verkünden einige Experten lauthals, die Suche nach einem wirksamen Aids-Impfstoff stehe kurz vor dem Ziel, so warnen andere vor verfrühter Euphorie.

Die WHO hat bereits Ende letzten Jahres beschlossen, ein von dem amerikanischen Unternehmen United Biomedical Inc. (UBI) entwickeltes Vaccin sei jetzt reif für eine großangelegte klinische Erprobung. Der Impfstoff, ein synthetisch hergestelltes Protein, dessen Aminosäurekette eine Oberflächenstruktur des Virus imitiert, hat bereits zwei Testphasen durchlaufen.

Eine Impfstoffprüfung umfaßt drei Abschnitte. Phase I untersucht an einigen Dutzend freiwilligen Versuchspersonen die Verträglichkeit des Produkts. Die Wissenschaftler ermitteln die Impfstoffdosis, die notwendig ist, um eine ausreichende Antwort des Immunsystems hervorzurufen. In einem zweiten Schritt mit bis zu 300 Testpersonen werden Art und Variabilität der Immun-Antwort sowie das Spektrum möglicher Nebenwirkungen untersucht. Im April letzten Jahres hatten bereits 25 Impfstoffkandidaten diese beiden Phasen durchlaufen. Die Ergebnisse jedoch waren enttäuschend. Zehn Impfstoffe wurden von vornherein als sogenannte therapeutische Vaccine eingestuft. Sie können eine Infektion nicht verhindern, sondern nur die Vermehrung des Virus im Körper einschränken und damit – so wird erwartet – den Verlauf der Krankheit möglicherweise verlangsamen. Zuverlässig bestätigt wurden die Ergebnisse bisher jedoch nicht. Ein Vaccin, das sicher vor einer Infektion schützt, haben die Forscher noch nicht gefunden. „Bislang“, so Ulrich Markus vom Aids-Zentrum des Bundesgesundheitsamtes, „ist noch kein Impfstoff reif für eine Phase-III-Studie.“

Dieser dritte und letzte Abschnitt des Impfstofftests soll die Wirksamkeit des Produkts nachweisen. Da die Wissenschaftler die Testpersonen nicht bewußt mit dem HI-Virus infizieren können, setzen sie auf das natürliche Infektionsrisiko. Je höher die Rate der Neuinfektionen ist, desto kleiner kann die Gruppe der Testteilnehmer sein. Reinhard Kurth, Präsident des Bundesamtes für Sera und Impfstoffe, hält es für „bedenklich“, daß die Wahl für einen großangelegten Test der Phase III gerade auf das UBI-Produkt gefallen ist. Seiner Meinung nach gibt es aussichtsreichere Kandidaten.

Angesichts der rapiden Ausbreitung des HI-Virus vor allem in Afrika, Asien und Südamerika steigt der Erfolgsdruck. Aber nicht nur humanitäre Motive sorgen für hektische Betriebsamkeit in den Entwicklungslabors großer Pharmaunternehmen. Kurth sieht hinter dem übereilten Beschluß auch ökonomische Interessen: „Wer einen Impfschutz nachweisen kann, stößt natürlich auf eine Goldader.“

Auf der Suche nach möglichen Testregionen fiel die Wahl der WHO auf die afrikanischen Staaten Ruanda und Uganda sowie auf Thailand und Brasilien. Ruanda ist mit 270 Einwohnern pro Quadratkilometer das am dichtesten besiedelte Land Afrikas. 1991 wurde die Bevölkerung auf 7,9 Millionen geschätzt. Obwohl bereits 1985 eine Aufklärungskampagne gestartet wurde, stieg die Zahl der an Aids Erkrankten in dem ostafrikanischen Staat drastisch an. Wurden 1988 nur 901 Fälle offiziell bekannt, so betrug die Zahl der Meldungen fünf Jahre später nach Angaben der WHO über 10.000. In Regionen mit einem derart hohen Infektionsrisiko sind nur zwischen 5.000 und 6.000 Probanden notwendig, um statistisch sichere Ergebnisse zu erzielen.

Für die Unternehmen bildet aber nicht nur die hohe Infektionsrate den Anreiz, ihre Tests in den Entwicklungsländern durchzuführen. Solche Untersuchungen stoßen dort auch auf weniger Widerstand. Die Länder erhoffen sich durch die Teilnahme an dem Testprogramm neben einem wirksamen Mittel gegen die Ausbreitung der Epidemie einen Ausbau ihrer wissenschaftlichen und medizinischen Infrastruktur. Etwa 20 Millionen Dollar werden pro Test und Region investiert. Die teilnehmenden Staaten, so eine Vorgabe der WHO, sollen später den Impfstoff verbilligt beziehen können. Zu oft haben die Gewinnkalkulationen der pharmazeutischen Industrie einen großflächigen Einsatz dringend notwendiger Impfstoffe und Medikamente vereitelt. Schon so einfache Impfprogramme wie das gegen Masern sind immer wieder an den Kosten gescheitert.

Wayne Koff, Leiter der Entwicklungsabteilung bei UBI, verspricht diesmal eine für alle Seiten zufriedenstellende Lösung. Obwohl auch die Weltgesundheitsorganisation den Eindruck erweckt, das Problem längst gelöst zu haben, kritisiert der norwegische Bioethiker Reidar Lie, entsprechende Absprachen mit den beteiligten Unternehmen seien längst nicht gesichert.

Während die Vorbereitungen für Impfstoffversuche in Entwicklungsländern bereits in vollem Gang sind, werden vor allem in Europa und den Vereinigten Staaten zunehmend kritische Stimmen laut, die auf die ethischen Probleme einer solchen „Safariforschung“ verweisen. Die Wissenschaftler stehen vor einem Problem: Sie sind verpflichtet, die Versuchsteilnehmer über Risiken und Infektionswege ausreichend zu informieren und über entsprechende Vorsorgemaßnahmen aufzuklären.

Wenn sich die Versuchsteilnehmer jedoch konsequent vor einer Infektion schützen, können die Forscher die Wirksamkeit ihres Impfstoffs nicht nachweisen. Die Unternehmen setzen, wie Reinhard Kurth weiß, auf eine alte Erfahrung: „Die Aufklärung kann noch so gut sein, irgendwann werfen die Leute die Kondome einfach weg.“ Das wäre in diesem Fall durchaus erwünscht.