„Die von der CDU stehen dumm rum“

Lübeck hält den Atem an: Nach dem Brandanschlag auf die Synagoge demonstrierten in der Hansestadt bei einem Schweigemarsch rund 5.000 Menschen gegen Antisemitismus und Rassismus  ■ Von Torsten Schubert

Gegenüber der St. Annen- Straße, in der Schleswig-Holsteins einzige Synagoge steht, beginnt das Fegefeuer. Zwar nur als Straßenname – doch am Tag nach dem Brandanschlag auf das jüdische Gotteshaus ist in der Hansestadt vieles symbolträchtig. „Lübeck hält den Atem an“, heißt es fünf vor zwölf auf dem historischen Rathausmarkt und ungefähr 5.000 Menschen schweigen für fünf Minuten.

Dieser Samstag ist ein Tag der Gegensätze. „Lieber eine Minute schreien – schreien vor Scham“, rufen Jugendliche in die bedrückende Stille. „Wir haben genug geschwiegen.“ Auch sie verstummen nach einer Weile. Zwei Demonstrationen sind zusammengelegt, das „Antirassistische Bündnis“ und die Stadt mit allen Parteien, Kirchen und Gewerkschaften hatten zu getrennten Kundgebungen aufgerufen. Kurzfristig kommt die Einigung auf eine gemeinsame Demonstration zustande. Die unterschiedlichen Teilnehmer tolerieren sich für diesen Tag. Gleichzeitig werden viele Zugangsstraßen in die Innenstadt ebenfalls für fünf Minuten von Bürgerschaftsabgeordneten und Senatsmitgliedern gesperrt. Dennoch ruht das öffentliche Leben in der Stadt keineswegs vollständig.

Als erster ergreift Stadtpräsident Peter Oertling (SPD) das Wort. Er fordert, die Demokratie militant zu verteidigen. „Der Verfassungsschutz ist aufgerufen, mit den Rechten dasselbe zu machen, was er damals mit der APO gemacht hat.“ Dafür kassiert er mäßigen Beifall und einige Pfiffe. Hamburgs Bischöfin Maria Jepsen unterstreicht in ihrer Ansprache: „Es muß normal sein, als Jude in Deutschland zu leben.“ Christoph Kleine vom „Bündnis gegen Rassismus“, der auf der „Einblick“-Liste der rechtsradikalen Szene steht, verlangt das „sofortige Verbot und die Zerschlagung aller faschistischen Parteien und Organisationen“. Ein Bürger, der die Abgeordneten seiner Stadt kennt, sagt kopfschüttelnd: „Von der CDU klatscht keiner, die stehen alle nur dumm herum.“ Als sich der Zug durch die Innenstadt in Bewegung setzt, mischen sich die Teilnehmer endgültig. Es gibt keinen Promi-Block und keine Polizeibegleitung. Nur eine Handvoll Beamte regeln den Verkehr. Auf dem Bürgersteig: Einkäufer wie an jedem anderen Sonnabend, Neugierige lehnen sich an ein Geländer und sehen zu. Nur wenige schließen sich an. Ein Rentnerehepaar verschwindet schimpfend in einer Seitenstraße. „Die demonstrieren doch nicht aus Überzeugung, sondern nur um Krach und Rabatz zu machen.“

Vor einem Modegeschäft belehrt die Inhaberin einen ausländischen Fensterputzer, wie er ihre Scheiben gründlich zu reinigen hat. Sie reißt ihm verärgert den Wischer aus der Hand. Zur gleichen Zeit stehen bereits einige Lübecker vor der Synagoge. Die Umzäunung ist vollständig mit Blumen belegt. Kerzen brennen in Windgläsern. Unter der Spendendose „für die Renovierungskosten der Synagoge“ liegt der Fahndungsaufruf der Polizei, Sonderkommission St. Annen. Darin werden 50.000 Mark für sachdienliche Hinweise ausgelobt.

Eine Mutter erklärt ihren Kindern: „Hier ist es passiert.“ Die Kinder ziehen an ihrer Hand. „Wir haben Angst“, sagen sie. „Ihr müßt keine Angst haben, die bösen Menschen kommen immer nur im Dunkeln“, meint die Mutter. Dann zieht die Demonstration schweigend an der Synagoge vorbei. „So ist es recht, ich habe mir einen Schweigemarsch gewünscht“, sagt eine Frau, die sich vom Zug getrennt hatte, weil dort „Parolen gerufen“ wurden.

Derweil gibt Lübecks Bürgermeister Michael Bouteillier (SPD) ein Interview. „Lübeck wird leider als die Stadt in die Geschichte eingehen, in der zum erstenmal nach 50 Jahren wieder eine Synagoge gebrannt hat“, sagt er. „Aber wir sind keine rechtsextreme Stadt.“ Um 14 Uhr ist alles vorbei. Nur wenige Menschen verharren vor der Synagoge. Eine Mahnwache bleibt. Die Jüdische Gemeinde, kaum mehr als zwei Dutzend BürgerInnen, kann in Sicherheit mit ihren rund 140 Gästen das Passahfest feiern. Über den Marktplatz werden wieder Touristengruppen geführt. Die Geschäfte schließen, für die meisten Lübecker beginnt ein ganz normales Wochenende. Wie ernst es die Menschen mit ihrem Antirassismus wirklich meinen, muß sich in den nächsten Wochen und Monaten zeigen.