■ Nach dem Brandanschlag auf die Synagoge in Lübeck
: Warum bleiben wir zu Hause?

Auf der Titelseite unserer gestrigen Ausgabe führten wir unter der Überschrift „Viele Worte, wenig Taten“ darüber Klage, daß lediglich in einem halben Dutzend deutscher Städte Menschen auf die Straße gingen, um gegen den Brandanschlag auf die Lübecker Synagoge zu protestieren – und, wenn es denn zu Demonstrationen kam, sich nur Hunderte oder wenige tausend beteiligten. Auf der gestrigen Redaktionskonferenz stellte sich dann heraus, daß auch von der taz-Redaktion nur ein einziger Redakteur den Weg zum Jüdischen Gemeindehaus in der Fasanenstraße gefunden hatte.

Eine mögliche Erklärung für diese Passivität lautet, daß die nicht abreißende Kette der rechtsradikalen Anschläge von Hoyerswerda bis Lübeck zu einer Ermüdung im immer wieder geforderten Reagieren mit immer ähnlichen Formen des Protestes geführt hat. Oder liegt es schlicht und einfach daran, daß in Lübeck glücklicherweise keine Menschen zu Schaden gekommen sind, auch wenn die Attentäter dies billigend in Kauf genommen haben?

Machen wir (Linke und Linksliberale) einen Unterschied bei der Einschätzung der Gefahren, die von Rassismus und Antisemitismus ausgehen? Glauben wir, daß die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in all seinen Formen ein Wiedererstarken des Antisemitismus unmöglich macht, aber nicht zwangsläufig auch dem Rassismus Einhalt gebietet? Autonome Antifaschisten haben nach den Pogromen von Hoyerswerda und Rostock, bei denen keine Ausländer zu Tode kamen, sofort Demonstrationen organisiert. Nehmen wir an, daß die herrschenden Politiker vielleicht den Ressentiments gegen namenlose dunkelhäutige Flüchtlinge aus der Dritten Welt nachgeben, aber bei Angriffen gegen deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens entschieden reagieren?

Ausgerechnet Außenminister Klaus Kinkel, aber auch Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth haben unmittelbar nach dem Anschlag eine Renaissance der Lichterketten gefordert. Sie eigneten sich damit ein Mittel an, das Individuen und gesellschaftliche Gruppen nicht zuletzt gegen die Untätigkeit der Politiker gesetzt hatten. Gleichwohl ist die Notwendigkeit einer politischen Aktion nicht vorzugsweise danach zu bewerten, wer sie vorschlägt. Und nach dem Lübecker Anschlag, der zu einem historischen Datum für den Neonazismus und Antisemitismus im Nachkriegsdeutschland geworden ist, sind auch die gewöhnlichsten oder antiquiertesten Mittel recht, um ein Zeichen zu setzen.

Der Protest darf nicht den Politikern überlassen werden; ebenso wie es die Politiker nicht bei Betroffenheitsbekundungen und dem symbolischen Protest belassen dürfen. So wenig ist nach dem Brand der Lübecker Synagoge klar. Michael Sontheimer