Chemische Keule oder Selbsthilfe?

Forstbehörden wollen Pestizide gegen die drohende Schwammspinnerinvasion einsetzen. Kritische Experten befürchten eine weitere Störung des ökologischen Gleichgewichts  ■ Von Andreas Sentker

Berlin (taz) – Der Konflikt war vorprogrammiert: „Jahrzehntelang wird dem Wald mit Schadstoffen aus Schornsteinen und Auspufftöpfen zugesetzt. Keine Reaktion. Doch kaum krabbeln kleine Raupen los und fressen sich durch unseren Blätterwald, da setzt eine Massenhysterie ein“, schimpfte gestern Helmut Klein, forstpolitischer Sprecher des Bundes für Umwelt und Naturschutz in Deutschland (BUND) vor der Presse. Behörden in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen haben entschieden, gegen die Massenvermehrung der Schwammspinnerraupen das synthetische Insektengift Dimilin einzusetzen. Die Chemikalie gefährde das ohnehin labile Ökosystem Wald, sagt Klein. Der Eingriff in die natürlichen Regelungsmechanismen werde, so warnt der Insektenkundler Gerhard Kneitz, das Problem nur verschleppen: „Damit ist der regelmäßige Gifteinsatz in unseren Wäldern vorprogrammiert.“

Die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald (SDW) befürchtet hingegen, der wiederholte Kahlfraß könne den bereits geschwächten Beständen endgültig den Garaus machen – mit den entsprechenden ökologischen Konsequenzen. Ihr Präsident Wolfgang von Geldern hält Abwarten für eine „gefährliche Alternative“.

Die Experten des BUND setzen auf alte Erfahrungen: Trotz Gifteinsatz im letzten Jahr haben sich die befallenen Flächen in Bayern und Hessen drastisch vergrößert. Der BUND vertraut auf natürliche Faktoren: Eine explodierende Schwammspinnerpopulation läßt den Bestand aufgrund der Verbreitung von Krankheiten und der nachfolgenden Vermehrung der natürlichen Feinde zusammenbrechen. Aber gerade die natürlichen Gegner – Klein zählt mehr als 230 Arten, neben Vögeln und Insekten vor allem Viren, Bakterien und Pilze – werden durch die Spritzmaßnahmen ebenso geschädigt. Damit gerät das komplexe Ökosystem völlig aus dem Gleichgewicht.

Das unübersehbare Geflecht verschiedener Faktoren erschwert die Diskussion: Luftverschmutzung, Erwärmung durch den Treibhauseffekt, hoher Wildbestand, Waldbaufehler und frühere Gifteinsätze werden für die Massenvermehrung verantwortlich gemacht. Die Umweltschützer halten die Schäden durch Straßenverkehr und Industrie für schwerwiegender als den jetzt drohenden Kahlfraß. Die chemische Industrie nutze die kursierenden Panikmeldungen zu Werbezwecken aus.

Aus den widersprüchlichen Prognosen eine Lösung abzuleiten fällt schwer. Die Grünen im bayerischen Landtag favorisieren ein Modell, das in Baden-Württemberg bereits in diesem Jahr realisiert werden soll. Dimilin und ein biologisches Präparat, das Bakterium Bacillus thuringiensis kurstaki, werden auf jeweils gleich großen Flächen getestet. Ein Drittel des bedrohten Waldes bleibt völlig unbehandelt. Ein wissenschaftliches Begleitprogramm soll klären, wie sich die Schäden ohne Gegenmaßnahmen entwickeln und welche Auswirkungen die eingesetzten Mittel haben.

Der BUND fordert langfristig ein integriertes Konzept, das einerseits die Belastungen der Wälder reduziert und andererseits alte Fehler korrigiert. Die bestehenden Monokulturen sollen durch naturnahe Mischwälder ersetzt werden. „Mit Gift“, so Helmut Klein, „ist unser Wald nicht zu retten.“