Sanssouci
: Vorschlag

■ Charles Gayle Trio auf Knitting-Factory-Tourstopp in Berlin

Normalerweise ranken sich die Legenden um die Toten. Bei Charles Gayle ist das anders. Er will jedenfalls schon in den 50ern Black Revolutionary Music gespielt haben, noch bevor sie erfunden war also. Der Mittfuffziger aus Buffalo ging dann Anfang der Sechziger nach New York, doch keiner dort wollte ihn beschäftigen. Als Musiker jedenfalls nicht. Er jobbte sich dann einige Jahre durch die Fabriken des Nordostens, spielte an Wochenenden zu Hause bei Freunden, auf der Straße und in Parks. „Während der vergangenen zwanzig Jahre lebte ich ausschließlich als Obdachloser in New York, ohne eigene Wohnung, ohne Geld, von Resten der Überflußgesellschaft, ohne Reserven – immer mit dem Saxophon unter dem Arm und auf der Straße“, erzählte er kürzlich der schweizerischen Wochenzeitung WOZ. „Ich fühlte mich oft verletzt, war aber nie richtig traurig.“ Die Möglichkeit, seine eigenen CDs zu hören, hat er nicht. „Vielleicht bin ich sogar Musiker – einige Leute behaupten, ich sei es nicht.“

Die Gesellschaft, in der er lebt, mochte er eh noch nie besonders. Rassistischer als die USA könne eine Gesellschaft kaum mehr werden, sagt Gayle, der sich als African bezeichnet, obwohl er über seine Herkunft wenig weiß. Wahrscheinlich sei er ein Ashanti, haben ihm Afrikaner erzählt, die sich auskennen. Um Black Music zu spielen, wie er es tut, müsse man schwarz sein, das Black Feeling haben. Seine bis zu fünfzigminütigen Improvisationen schreien, grunzen und quälen sich quietschend und kompromißlos gegen die Moden des Tages. „Gayle ist der Alptraum der Neokonservativen: er kennt das Saxophon als Blues-Fackel und als Intervall-Maschinerie, er ist ein Power-Play-Spieler der Old School, der wie eine Erlösung wirkt und der es nicht mit irgendwelchen Trends hält. Gayle live – das ist eine der herausragendsten Jazz-Erfahrungen“, feiert downbeat die Spätzünderkarriere des Charles Gayle. Mißbrauchen lassen werde er sich nicht, versichert Gayle. Und garantiert, daß er keine Songs spielen werde, denn „Songs spielen sie ja im Radio schon genug. Ich lebe das Risiko.“ In seinem Trio spielt der Bassist Hilliard Greene und der Five-Elements- und Parliment-Funkadelic-Schlagzeuger Michael Wimberly. Christian Broecking

Heute, 21 Uhr, Kulturhaus „Peter Edel“, Berliner Allee 125, Weißensee.

Alptraum der Neokonservativen: Charles Gayle Foto: Verleih