Raum für müde Einbrecher

Der alte Professor und ein furchterregend großes Glas Bier: Akira Kurosawas „Madadayo“ kommt im heiter-melancholischen Gestus eines letzten Filmes daher / Der achtzigjährige Tatsuo Matsurama in der Hauptrolle  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Mittlerweile ist der 83jährige Regisseur und Drehbuchautor Akira Kurosawa ein lebendes Denkmal. Fünfzig Jahre ist es her, daß sein erster Film „Sanshiro Sugata“ auf die Leinwand kam. „Madadayo“ ist sein dreißigster und kommt im heiter melancholischen Gestus eines letzten Films daher. Erzählt wird von Hyakken Uchida, einem der bekanntesten und beliebtesten Schriftsteller Japans, der sich 1943 aus der Universität zurückzog, wo er bis dahin als Deutschprofessor gearbeitet hatte, um sich von nun an ganz dem Schreiben zu widmen.

Ein Professor im Ruhestand (der 80jährige Tatsuo Matsumura erinnert ein bißchen an Kurosawas „trunkenen Engel“) wird, wie alle Personen des Films, selten mit Eigennamen genannt. Er ist die klassische Figur des Weisen – ein alter Mann zwischen intellektueller Meisterschaft und einer zuweilen ins Kindische spielenden Naivität und Albernheit, mit der er immer wieder seine Ex-Studenten, die ihn sozusagen vor den praktischen Schwierigkeiten des profanen Lebens schützen wollen, überlistet.

In einer der ersten Szenen wollen zwei von ihnen zum Wohle ihres Meisters testen, ob sein Haus auch gegen Einbrecher geschützt sei. Komisch verschwörerisch und auch ein bißchen ängstlich (wer den Einbrecher spielt, hat mindestens genauso viel Angst wie derjenige, der den Einbrecher plötzlich hört und dann zittert) überklettern sie einen Zaun, schleichen sich ans Haus heran und stehen plötzlich vor einer Tür mit dem Schild: „Eingang für Einbrecher“. Leicht verunsichert kichernd gehen sie weiter, durch den „Durchgang für Einbrecher“, ruhen sich aus in dem „Raum für müde Einbrecher“ (in dem auch Zigaretten freundlich warten für rauchende Einbrecher), um durch den „Ausgang für Einbrecher“ dann wieder zu verschwinden.

Solcherlei Scherze liebt der Professor, der auch noch andere sympathische Eigenschaften hat. Er raucht – sehr behutsam und schön – er trinkt ab und an. Er hat Angst vor Gewittern und verkriecht sich wie ein kleines Kind, wenn es laut donnert; auch fürchtet er sich in der Dunkelheit und sagt, daß jeder, der sich nicht in der Dunkelheit fürchte, ein Dummkopf sei.

Während des Krieges wird sein Haus von Luftangriffen zerstört; so richtet er sich eine Weile mit seiner Frau und seinem Lieblingsbuch in einem winzigen Gartenhaus ein. Die Studenten, die ihn zu seinem Geburtstag besuchen kommen, stehen mit aufgespannten Regenschirmen vor dem Eingang. Bald bauen sie ihm ein neues Haus und inszenieren ab seinem 61.Geburtstag rituelle Feste, die sie „Mada Kai“ nennen.

Auf diese Feste richtet Kurosawa seine größte Aufmerksamkeit. Der erste „Mada Kai“, der noch in die Besatzungszeit fällt, gibt sozusagen das rituelle Muster vor. Auf einem Podium sitzt das Festkomitee: der Professor, der Arzt des Professors und ein Mönch. Im Hintergrund an den Wänden Werbeplakate für deutsches Bier. Im Saal die Studenten, von denen jeder eine Rede zu Ehren des Professors hält. Nur ein sympathischer Dicker fühlt sich zu schüchtern, eine Rede zu halten. Statt dessen steht er stramm und zählt laut und deutlich wie in der Schule sämtliche japanischen Eisenbahnstationen auf. Erst am Ende des Festes wird er damit fertig geworden sein. Klasse!

Zur Eröffnung eines jeden Festes fragt einer der Studenten den Jubiliar: „Mada kai?“, also: „Bist du bereit?“ (zu sterben). Erst nachdem er ein furchterregend großes Glas Bier auf einen Zug ausgetrunken hat, darf der Professor antworten: „Madadayo.“ – „Noch nicht.“ Kurosawa inszeniert das Bieraustrinken fast in Realzeit, wie eine Suspense-Szene im Horrorfilm. Mit den Studenten, die atemlos für Minuten schweigen, hat man Angst um den Professor; daß er es nicht schafft, daß er das Bier verschüttet, daß es ihm herunterfällt, daß er plötzlich umfällt. Es gelingt, natürlich. Danach wird erst richtig gefeiert. „Jeder soll soviel trinken, wie er kann.“ Seit der legendären langen Kamerafahrt durchs Oktoberfestzelt in Achternbuschs „Bierkampf“, seit John Hustons „Unter dem Vulkan“ gab es keine so authentische und genaue Inszenierung großartiger Betrunkenheit. Von allen Seiten und ein bißchen durcheinander, ein wenig zusammenhanglos in ihrem begeisterten Nebeneinander, doch immer deutlich voneinander abgesetzt stürmen die Bilder und Worte auf einen ein, wie die Studenten mit ihren Sakeflaschen auf den Professor einstürmen, damit er mit ihnen trinke.

Plötzlich, wie am Ende rauschender Feste, das man in seiner Begeisterung gar nicht bemerkt hat, ist es still, der Saal ist leer. „Wo sind sie alle geblieben“, fragt traurig der Professor. In einem feierlichen Leichenzug kommen die Studenten zurück. Aufgebahrt auf einem Tisch, unter einem weißen Tischtuch, tragen sie schweigend einen „Toten“ in den Saal. Verwirrt fragt der Professor: „Bin das ich?“ Der Tote springt auf und ruft „Mada kai?“ Erleichtert antwortet der Professor: „Madadayo!“ Laut feiert man die Wiederauferstehung, die durchaus auch historische Bezüge hat. Kurosawa berichtet jedenfalls in seiner Autobiographie von der Rede, die der Kaiser am 15.8.1945 hielt: „Hätte der Kaiser in seiner Ansprache nicht dazu aufgerufen, die Waffen niederzulegen; hätte er statt dessen den ,ehrenhaften Tod der hundert Millionen‘ befohlen, so hätten diese Menschen [...] höchstwahrscheinlich getan, was man von ihnen verlangte, und sich selbst entleibt. Und wahrscheinlich hätte ich es ihnen gleichgetan.“

Die Realgeschichte taucht jedoch lediglich als Zitat auf – in Gesprächen über Pferdefleisch, im kunstvollen Dekor des zerstörten Tokio oder wenn amerikanische MPs vorbeikommen. Kurosawa kann man daraus sicher keinen Vorwurf machen; er hat in genügend Filmen die Situation im Nachkriegsjapan geschildert.

Die Geburtstagsfeiern sind die Stationen, an denen der Film kurz haltmacht, um gestärkt danach weiter zu gehen. Dazwischen läuft dem Professor seine geliebte Katze fort – die verzweifelte Suche nach „Nora“, die das historische Vorbild des Films in einem Roman verarbeitete, schildert Kurosawa ausgiebig und mit großer Sympathie. Ein böser Mann taucht auf und will mit einem Hochhaus dem Professor das Sonnenlicht verstellen – die Studenten greifen rettend ein. In melancholisch leuchtenden Farben ziehen die Jahreszeiten vorbei.

Der 15. Mada Kai kommt. Die Zeiten haben sich gewandelt; aus den Studenten sind längst Väter oder Großväter geworden. Ein paar Kinder springen im modernen Festsaal herum. Auf dem Podium stehen 60er-Jahre-Mikrofone, auch singt man nicht mehr Japanisch, sondern „Happy Birthday“. Beim Leeren seines obligatorischen Glases, das mit den Jahren etwas kleiner geworden ist, erleidet der Professor einen Schwächeanfall. Seine Getreuen bringen ihn nach Hause. Während sie mit einer großen Flasche Sake Wache halten und trinkend versuchen, sich vergangener Studentenzeiten zu vergewissern, beginnt der Professor in wunderschönen, sehnsüchtigen Abschiedsfarben zu träumen. Weit ist das Reisfeld seines Traumes (es ist die einzige Totale des Films). Kinder spielen Verstecken. „Mo ii kai“ – „Können wir suchen“, hallen ihre Rufe durch die hyperreale Klarheit der Landschaft. „Madadayo“, antwortet ein kleiner Junge, während er sich unter einem Reisigbüschel versteckt. Dann schaut er noch einmal in den Himmel, der sich immer wehmütiger und schöner gen Tod bis zum Kitsch zwischen gelb und rosa und andrem verfärbt, was einem sonst am Ende eines halbwegs gelungenen Lebens so erscheinen mag.

Madadayo ist perfekt ohne den Terror des Perfekten, große Filmkunst, die sich ihrer Mittel bewußt ist. Kurosawa, der sich tatsächlich wie der Held seines Films als „Meister“ titulieren läßt, gebraucht sie so souverän wie sonst keiner. „Madadayo“ ist einer der wenigen Filme, bei denen man plötzlich wieder an klassische Ästhetiken des Schönen denkt. Das Werk ist ein Kreis. Alles stimmt. Nichts ist zuwenig, nichts ist zuviel. Vor allem aber ist der Film ein „Geschenk“ (Scorsese), das Kurosawa seinen Zuschauern gemacht hat.

„Madadayo“. Buch und Regie: Akira Kurosawa. Kamera: Takao Saito, Hisso Kurosawa. Mit: Uchida Tatsuo Matsumura, Kyoko Kagawa, Hisashi Igawa u.a.; Japan 1993, 134 Min.