Chemischer Niederschlag

Das Allgemeine rutscht in die Biologie oder: Porträt der Künstlerin als junger Mutter. Iris Häusslers prä- und postnatale Erkundungen im Kunstraum München

Mutter und Kind gehören schon lange nicht mehr zu den Leitmotiven der bildenden Kunst – Helmut Kohls Pietà Unter den Linden vielleicht als letzte Offenbarung aus einer Zeit, die Freuds Lebenswerk, bewußtseinsmäßig, nicht einschließt. Ödipus grüßt als Schmerzensmann, oder andersherum.

Definitiv diesseits des Mutterkitsches hat Iris Häussler, Jahrgang 1962 und Absolventin der Münchner Akademie, das Thema neu aufgegriffen und in drei Sparten durchexerziert. Im „Kunstraum“, einer Art Kunstverein in Schwabing, zeigt sie im ersten der vier Räume an der stillen Viktor- Scheffel-Straße einen Fries winziger Bildchen von 243 Babies im ersten Lebensjahr, 1905 bis jetzt. Ohne Zweifel wird hier Charisma fotografisch entdeckt, befördert und produziert: Clowns, Weise, Verschreckte und solche, die in den Bann ziehen; Lüsterne und Strenge. Babies, wie sie bekanntermaßen die Lebensphasen bebildern, sich selbst spielen (als „vor dem Eros“), erwachender Eros und Greis. Die schwarzweißen Fotos, mit mehr Ambition gefertigt, interpretieren stärker, und die bunten bringen die Lieblichkeit der Babyindustrie als unfreiwilliges Zitat ins imaginäre Album, das hier ausgestellt wird. Volkszählungsmäßig sind sie erfaßt: Kleine Klebevermerke unter den Bildern nennen den Geburtstag und -ort. Einem leuchtet das Blitzlicht den Rachen aus, ein anderes empfiehlt sich als kleiner Buddha. Undramatisch (man denke an Gesichter in den auratisierenden Arbeiten von Boltanski) treten die Biographien auf den Plan.

Im zweiten Raum gibt es Zeichnungen zu sehen, und im dritten und vierten sind mit Aluhalterungen 280 Reagenzgläser an den Wänden festgemacht, die sämtlich Proben von Muttermilch zeigen. Wieder sind die Geburtsdaten registriert und die Daten der Spende. Die Konkurrenz von Allgemeinem und Persönlichem stellt sich nun anders dar: Das Allgemeine rutscht zurück in die Biologie, und das Persönliche erscheint als chemisch-physikalischer Niederschlag. Nicht Tage, sondern Wochen alt, haben sich die Spenden sehr unterschiedlich entwickelt, sofern sie es nicht von vornherein waren. In manchen Gläsern erscheint die Flüssigkeit recht konsistent, in anderen hat sich eine deutliche Krone abgesetzt. Sie erscheint bisweilen sehr gelb, dann wieder weißlich kristallin. In den Schattenzonen der beiden Räume nehmen sich die Proben fast immateriell aus – verschwimmen im Weiß der Wand –, in den sonnenbeschienenen Passagen werfen die Gläser selber Schatten.

Drei Genres bedient Iris Häussler, und das kunstvoll: Fotografie, Zeichnung und Skulptur. Die Fotografie ist Zitat, die Skulptur eine gelungene Veralberung zeitgenössischer überzogener „Konzepte“. Wie auch immer man die „Milchen“ sieht, sie sagen so viel oder wenig wie die Steine von Richard Long.

Die Zeichnungen sind ein Porträt der Künstlerin als junger Mutter. Reduziert – nicht Comic, aber deutlich un-arty – zeigen sie „Frau S. ihr Kind wickelnd“, „Frau S. ihr Kind liebkosend“, „Frau S. ausruhend am Mittag“ und „Frau S. telefonierend mit ihrem Mann“. Die Bleistiftprotokolle, silbern schimmernde Krakel auf postkartengroßem, gelblichem Bütten, zeigen die Verletzlichkeit beider Figuren durch den Grad ihrer Abhängigkeit, und in der Serie die Abstrusität des verklammerten Zustands, wenn man ihn als Folge standardisierter Arbeitsschritte auswertet. Die zeichnerische Reduktion ist überwältigend auf einem Blatt, das keinen Titel hat und die Mutter als Hochschwangere zeigt. Der Körper besteht nur aus der Hülle (die das Embryo einschließt), einem flüchtigen Diagramm der Brüste (in die das Herzsymbol eingezeichnet ist) und einem gestreckten Arm, die Hand zur Faust geballt. Das Ensemble wird zusammengehalten mit einem durchlaufenden Strich, der „die“ Ader symbolisiert. Das Köpfchen der Frau liegt als schräges Ei darüber, abgekoppelt.

Bewundernswerterweise hat die Künstlerin gerade jenen Zustand als Einheit protokolliert, in dem das Gefühl für die Einheit des Leibs (der Leiber) offensichtlich verlorengeht. Die schicken Theorien vom „zerstückelten Körper“ spielen dabei keine Rolle.

Neben den Zeichnungen gibt es kleine Fotos aus Zeitschriften, die Gebäudefassaden als „potentielle Geburtshäuser“ und eines als „potentielles Sterbehaus Nr. 9“ ausweisen, ein geschickter Verweis auf die Hardware der Biographie, die Immobilie.

Zwei kleine Rahmen zeigen ferner das grafische Muster des Springspiels „Himmel und Hölle“, wobei die identischen Muster als Fassung „x“ und „y“ ironisiert werden: ein vielleicht etwas zu deutlich geratener Hinweis darauf, daß im Spiel der Biographie ein allgemeiner Platzvorteil für Jungen nicht mehr auszumachen ist. Aber da ist vielleicht der Wunsch die Mutter des Gedankens. Ulf Erdmann Ziegler

Iris Häussler: „Paidi“. Zu sehen im Kunstraum München, noch bis zum 9. April.