Der vielleicht letzte Film seiner Art

■ Der Bremer Fernsehmacher Karl Fruchtmann über die Geschichte eines neunzigfachen Kindermordes und die Möglichkeiten des Fernsehens, noch schlechter zu werden

Herr Fruchtmann, woran arbeiten Sie gerade?

Ich bin mit sehr aufwendigen Recherchen für eine dieser Sachen beschäftigt, bei denen ich das Gefühl habe, daß ich gewisse Filme machen muß, weil sie kein anderer macht, weil sie kein anderer machen kann. Es geht um Judenmorde. Ich habe da eine Reihe von Dokumenten gefunden, deren Gegenstand die Ermordung von neunzig Kindern ist, vom Säuglingsalter bis zum Schulalter, geschehen in der Ukraine im August 1941.

Dort sind bis zu diesem Zeitpunkt schon hunderte, tausende von Juden erschossen, ermordet worden, erst nur Männer, dann auch Frauen und Kinder, und irgendwie müssen aber trotz deutscher Effizienz diese neunzig Kinder übrig geblieben sein. Ein Restbestand. Kurzum: Eines Tages kommt ein Soldat zu einem Militärpastor und berichtet ihm von einer Anzahl verlauster, verdreckter Kinder, die vor Hunger den Kalk von den Wänden fressen, von Soldaten, die ratlos dabei stehen, und von den Ukrainern, auf die das doch einen furchtbaren Eindruck mache.

Der Pastor geht hin, ist entrüstet und meldet die Sache seinem katholischen Kollegen, dieser sagt es dem Divisionspfarrer, der gibt es auch wieder weiter an den nächsthöheren Rang, und dann folgt eine ganze Kette von Leuten, die davon hören, die einen Bericht bekommen, die sich das anschauen. Und alle sind entrüstet und der Meinung, daß diese Szenerie der Mannestugend der deutschen Soldaten abträglich sein könnte. Niemand aber sagt gerade heraus, daß man diese Kinder nicht umbringen solle. Schließlich gelangt die Geschichte zu einem Oberst des Generalstabes, einem Bremer übrigens, der in mancher Hinsicht ein aufrechter Mann, in anderer wieder ein Nationalist ist, andere Militärdienststellen schalten sich ein, und es kommt zu einem Konflikt mit dem Oberst, der sich gegen die Ermordung dieser Kinder wendet. Nach vielem Hin und her greift aus dem Hauptquartier der Generalfeldmarschall von Reichenau in die Geschichte ein, und am nächsten Tag werden die Kinder auf einen Lastwagen geladen, in einen nahen Wald gefahren und erschossen, von Ukrainern übrigens, als letzte Gnade.

Ich mache nun diesen Film nicht, um das Grauen zu zeigen, das interessiert mich nicht mehr, das ist vorbei, das ist nicht mehr genug. Was mich an diesem Fall fasziniert, ist die Kette von Personen, die daran beteiligt waren; das zieht sich durch die ganze Armee. Die Armee ist heftigst verstrickt, auch wenn, wie man hier sieht und wie es ja heute noch geschieht, auch wenn die SS als Alibi verwendet worden ist, damit der Schild des Heeres rein bleibe. Was mich darüber hinaus fasziniert, ist die Tatsache, daß jeder Abschnitt dieser Geschichte aufs Genaueste dokumentiert ist, so daß ich die Figuren einfach reden lassen kann, ohne daß ich ein einziges Wort erfinden müßte.

Sie sagten, es sei einer der Filme, die kein anderer macht.

Ja. Nicht daß ich der Jude vom Dienst wäre. Vier meiner Filme beschäftigen sich mit dem Judenmord, insgesamt habe ich dreißig gemacht. Ich glaube nur, daß es bald nicht mehr möglich sein wird, überhaupt solche Filme zu machen. Früher sind allein in Hamburg jedes Jahr zwanzig Fernsehspiele entstanden, heute gar keins mehr. Da schwinden natürlich die Chancen dahin, daß Leute herangebildet werden, die notwendige Filme machen und nicht nur solche, die bloß unterhalten und der Quote dienen.

Da arbeiten viele Dinge zusammen, und nicht zufällig; das schwimmt ja auf dem Strom der gesellschaftlichen Entwicklung unserer Zeit. Und wenn Sie noch dazu nehmen, daß man mit so einem Thema auch die Verpflichtung übernimmt, es auf einer gewissen künstlerischen Höhe zu bearbeiten, weil alles andere entsetzlich wäre, wie man an verschiedenen Beispielen sieht...also ich weiß, daß ich in der Lage bin, diese Höhe zu erreichen; das verpflichtet mich umso mehr dazu, solche Filme zu machen. Ich sehe aber, daß das wohl der letzte Film seiner Art sein wird.

Keine Kollegen, denen Sie's zutrauen?

Fechner ist tot, Monk macht nichts mehr. Und die Zahl der Fernsehspiele, die über ihren bloßen Unterhaltungswert hinaus noch irgend etwas bedeutend, ist unvergleichlich klein geworden. Mag sein, daß ich das zu schwarz sehe. Aber ich finde im Moment keinerlei Hinweise auf eine Aufwärtsentwicklung. Im Gegenteil, das deutsche Fernsehen hat noch so viele unausgeschöpfte Möglichkeiten, schlechter zu werden.

Sehen Sie, ich bin in den letzten Monaten zum channel hopper geworden, und ich erinnere mich an die Zeit, da es statt drei plötzlich sechs Kanäle gab. Dieses Mehr an Auswahl, diese neue Freiheit, dachten wir: Toll, was der Kapitalismus uns bieten kann! Heute sehe ich: Es ist alles immer nur ähnlicher und damit weniger geworden, und die drei ersten Programme sind auch noch schlechter denn je. Man könnte schon direkt wieder einen Film drüber machen, einen lustigen, bitterbösen, einen satirischen, wenn es nicht Gegenstände und Zeiten gäbe, wo keine Satire mehr möglich ist. Machen Sie eine Satire über Kohl! Niemand kann das, und was gemacht wird, ist Ulk.

Nein, die Satire würde den Glauben voraussetzen und den Zorn darüber, daß er verletzt worden ist. Eine der größten Satiren, die wir kennen, stammt von Swift; in ihr äußert sich eine glühende Wut über das Elend des Hungers, das Spiegelbild des Glaubens, es könnte anders sein. Wo finden Sie heute diesen Glauben? Bei anderen Völkern vielleicht, bei den Kolonialvölkern notgedrungen...

...die in diesem Sinne satirefähig sind. Es wäre interessant, Landkarten zu erstellen, auf denen die weltweite Verteilung der Satirefähigkeit veranschaulicht wird.

Ja, allerdings.

Nun sind Sie Ihr Leben lang beim Fernsehen geblieben. Haben Sie nie daran gedacht, fürs Kino zu arbeiten?

Das ist nicht so einfach. Zu den Aufgaben eines deutschen Kinoregisseurs gehört es zum Beispiel, das ganze Geld aufzutreiben. Das wiederum setzt voraus, daß man Kontakte hat und so weiter. Das kann ich nicht, will ich nicht, das interessiert mich nicht. Ich bin in gewisser Weise ein Außenseiter geblieben, das sage ich ohne Stolz, ich stelle es fest. Sie wissen, ich bin Jude, ich bin nach einem Aufenthalt in KZs aus Deutschland weggegangen, und die Selbstverständlichkeit, mit der ich sagen könnte, ein Deutscher zu sein, hat aufgehört in den Jahren 1941/42. Seit ich wieder zurückgekehrt bin, lebe ich als Jude in Deutschland, wozu es aber auch paßt, daß alle meine Freunde Deutsche, also Nichtjuden sind, so wie es andererseits auch dazu paßt, daß ich den Deutschen als politischer Einheit nach wie vor kein Vertrauen entgegenbringe.

Aber lassen Sie uns zum Kino zurückkehren: Ich bedauere es sehr, daß mir seine Möglichkeiten fehlen, ich bedaure es immer wieder. Das fängt mit der höheren Auflösung der Bilder an, und es hört noch lange nicht auf mit der Vielzahl der Kamera-Einstellungen, die ich bräuchte, für die ich beim Fernsehen aber einfach nicht die Zeit habe. Da sind ja 26 Drehtage für einen Film schon viel, während etwa ein Reklamefilmer eine ganze Woche für eine einzige Minute hat. Ich denke, daß ich mich, bei allem Respekt, auf künstlerischer Ebene mit vergleichbaren Arbeiten fürs Kino wohl messen könnte, ich sehe aber auch, daß dem Kino viel mehr Gewicht beigemessen wird. Ja, da ist schon ein gewisses Kneipen im Bauch, vor allem, weil ich mir mit der Entscheidung fürs Fernsehen die schöpferischen Möglichkeiten des Kinos versagt habe.

Man rühmt Sie nicht wenig dafür, daß Sie stattdessen die Möglichkeiten des Fernsehens erweitert haben.

Ich hatte einen gewissen Anteil daran, daß Radio Bremen über lange Jahre für Fernsehspiele der beste Sender war. Aber für den Film, von dem ich Ihnen erzählt habe, bekomme ich schon nur noch die Hälfte des üblichen Etats, und den nächsten Film, der mir noch vorschweben würde, den werde ich wohl gar nicht mehr machen können.

Es wäre dies ein Film über den Mord an den Zigeunern, der ja wie der Mord an den Russen oder an den Polen oftmals hinter dem Mord an den Juden zum Verschwinden gebracht wird wie hinter einem Alibi, so grotesk sich das anhört. Ich würde gerne einen Film machen über das KZ Mauthausen, wo sehr viele Zigeuner umgebracht worden sind, und ich sehe schon eine Szene vor mir, vielleicht eine Viertelstunde lang, wo ich immer wieder diese Treppe, diese hundertachtzig Stufen hineinmontiere, die Treppe im Steinbruch von Mauthausen, über die die SS zu ihrem Vergnügen die Häftlinge mit den Steinen immer wieder hinaufgejagt hat.

Eine optisch starke Aussage, diese Treppe, ein Bild, kein Symbol, den Ausdruck mag ich nicht, und noch weniger mag ich es, wenn man die Übersetzung gleich mitliefert, dann ist es schon faul, dann ist es Propaganda, nein, ein Bild, aus dem sich vieles ableiten ließe. Aus solchen Bildern entstehen die Filme in meinem Kopf. Diesen hier, wie gesagt, mache ich wahrscheinlich nicht mehr.

Hätten Sie mal was andres werden können als ein Filmemacher?

Jetzt sind wir doch wieder da, wo ich nicht hinwollte. Ich sprach schon mal von meiner unterbrochenen, nicht normal verlaufenen Biographie. Also: Ich habe hinterher alles mögliche gemacht, bis ich mir eines Tages sagte: letzte Chance, etwas anzufangen, was du wirklich wolltest. Und da stand wohl der Wunsch, Filme zu machen, an erster Stelle.

Er kam spät, muß ich sagen, ich war damals schon 42 und arbeitete bei der israelischen Luftlinie als Manager für England; ich habe das aufgegeben, und ich bin ohne alles nach Deutschland zurückgegangen, bin ausgelacht worden für meinen seltsamen Wunsch, durfte aber dann doch mal bei einer Produktion im WDR gucken, bei der nächsten hab ich schon Kabelhilfe gemacht, dann dritter Aufnahmeleiter, dann Aufnahmeleiter, dann Regieassistent und so weiter. Und ich bin in Deutschland geblieben, aus dem selben Grund, aus dem ich zurückgegangen bin: um mich mit diesem Land zu konfrontieren. Damit das nicht wie bei so vielen deutschen und anderen Juden im Genick sitzen bleibt als ein Schrecken; ich wollte sehen, wie diese Konfrontation aussieht.

Fragen: Manfred Dworschak