: Hilfe für Bosnier ist möglich
3.400 Menschen hat der deutsche Verein „Den Krieg überleben“ bisher aus Bosnien evakuiert / Wer Familien aufnimmt, gehört dazu ■ Aus Zagreb Rüdiger Rossig
Das „Kafić“ im 3. Stock der Preradovićva-Straße sieht aus wie jedes andere modische Café im Süden Europas. An viel zu kleinen Tischen drängen sich jeweils sechs bis sieben junge Menschen vor Kaffeetassen, Biergläsern und überquellenden Aschenbechern. Anoraks sind in: Der Herr trägt Blau, die Dame Rot, dazu kommen Bluejeans und italienische Wildlederstiefel. Popmusik im Stil der 60er dudelt im Hintergrund, passend dazu zeigt Europas Jugend im Februar 1994 wieder längere Haare. Und Zagreb ist eine europäische Stadt.
Zehn Minuten zu Fuß – und Europa ist zu Ende. Die Treppe hinunter, vorbei an dem Glaskasten, in dem der DJ von „Radio 1“ in Sichtkontakt mit den Passanten seine Scheiben auflegt, vorbei an Straßenbahnen, Zeitungsverkäufern und gefüllten Geschäften. Irgendwo am anderen Ende der Ilica, der längsten Straße der kroatischen Hauptstadt, beginnt die „Straße der Republik Österreich“. Wie so vieles im Osten Europas hieß sie bis vor kurzem noch anders, weshalb bis heute nicht einmal die Taxifahrer wissen, wo genau diese „Ulica Republike Austrije“ liegt. Wahrscheinlich war der ehemalige Namenspatron Serbe. Oder Kommunist.
Von unserem Treffpunkt aus kann Martin Fischer den Angestellten der kroatischen Flüchtlingsbehörde auf den Schreibtisch gucken. Seit eineinhalb Jahren schlägt sich der massige Mann mit dem grauen, übermüdeten Gesicht zusammen mit seiner bosnischen Mitarbeiterin Milena mit Behörden wie dieser herum. „Eigentlich sind wir eine legale Schlepperbande“, faßt Fischer die Arbeit seines in Bonn eingetragenen Vereins zusammen. Tatsächlich evakuiert „Den Krieg überleben“ Menschen aus Bosnien.
In den letzten Wochen haben Fischer, Milena und die drei Bonner MitarbeiterInnen von „Den Krieg überleben“ die Papiere für die Ausreise von knapp 400 Menschen aus den serbisch besetzten zwei Dritteln der ehemals mitteljugoslawischen Republik zusammengestellt. In Plastikkladden verpackt, liegen sie auf dem Bett in Fischers „Büro“, einer umgewidmeten Privatwohnung nicht weit vom Zentrum Zagrebs: neue bosnische Pässe, unterschriebene Einladungen für die Bundesrepublik Deutschland, Transitvisa für Kroatien. Doch die Bürokratie in der „Straße der Republik Österreich“ sträubt sich gerade wieder einmal. Zwei Zigarettenlängen braucht Fischer, um mit Milena zu besprechen, welche der Aufgaben des Tages auf keinen Fall Aufschub dulden. Fischer „pressiert's“, wie er, ins heimatliche Österreichisch fallend, betont. Schließlich geht es um Menschenleben. Auf den Türen des Mercedes Kombi, mit dem wir aus Zagreb heraus nach Nordosten fahren, steht „Preživjeti Zimu“, „Den Winter überleben“. Tatsächlich hatte Fischer bei Gründung des Vereins vor eineinhalb Jahren nur einen Winter lang helfen wollen. „Wir hatten naiverweise angenommen, daß der Krieg vor Beginn des Winters 1993 zu Ende sein würde“, erklärt Fischer. Mittlerweile ist die blaue Schrift auf den Aufklebern verblaßt, in Deutschland wurde der Vereinsname geändert. „Hier ist das nicht nötig“, sagt Fischer. „Es weiß schon jeder, was gemeint ist.“
Die Autobahn von Zagreb Richtung Belgrad hieß bis vor zwei Jahren „Bratsvo i Jedinstvo“, Brüderlichkeit und Einheit, und war unter deutschen Touristen als „Autoput“ berüchtigt. Links, im Osten, liegt Slawonien, das zur Hälfte von serbischen Truppen besetzt ist. Rechts geht es zur bosnischen Grenze. Seit Wochen erwartet Martin Fischer von dort einen Bus voller Flüchtlinge aus der sogenannten „Serbischen Republik“, dem serbisch besetzten Teil Bosnien-Herzegowinas. „Bislang waren für die Einreise nach Kroatien ein Transitvisum und ein Visum für ein Drittland ausreichend“, sagt Fischer. „Am 27. Januar steckte dann eine Gruppe unserer Leute in Novska fest. Ihre Transitvisa waren schon abgestempelt, aber plötzlich hieß es: Ihr könnt hier nicht mehr durch.“ Die Menschen der 68. Gruppe, die das „Büro Fischer“ aus dem serbisch besetzten Bosnien in die Bundesrepublik bringen wollte, mußten zurück in den nominell von den UN-Schutztruppen (Unprofor) verwalteten „Sektor West“ – die serbisch besetzte Krajina in Kroatien.
Die Flüchtlinge hatten Glück im Unglück: Ein jordanisches Unprofor-Bataillon nahm sie für vier Tage auf, bis Fischer endlich die geforderte „Genehmigung der Einreise von organisiert Reisenden“ erwirken konnte. Mehr konnten die Blauhelme nicht tun: Aufgabe der Unprofor ist es, mögliche Kampfhandlungen zwischen der kroatischen Armee, den serbischen Milizen, die den Sektor beherrschen, und Truppen der bosnischen Serben im Süden des Gebietes zu beobachten. Flüchtlinge versorgen sollen sie nicht.
Eine halbe Autostunde in Richtung Belgrad liegt die Kleinstadt Ivanić Grad. Wir halten auf einem schlammigen Platz vor einem unverputzen Gebäude. Am Balkon des „Transithauses“ hängt schlaff eine verwaschene kroatische Fahne. Martin Fischer ist sofort von Menschen umringt: Wann sie denn endlich weiterreisen würden, will eine ehemalige Kioskbetreiberin aus Mostar wissen. Der Mann neben ihr stellt seine Frage schon auf deutsch – seit sieben Monaten wartet er hier, im ehemaligen Kulturhaus der Gemeinde, auf eine Gastfamilie. Fischer versteht ohne Übersetzung, antwortet langsam und müde in gebrochenem Serbokroatisch immer das gleiche: „Čekate“, wartet; oder „Možda sutra“ – vielleicht morgen.
In dem kleinen Gang zwischen den beiden Räumen des Gebäudes wird den Gästen türkischer Kaffee serviert. „Das Problem mit der neuen Regelung der Kroaten ist, daß es einzelne Flüchtlinge aus der sogenannten Serbischen Republik Bosnien-Herzegowina gar nicht geben kann“, erklärt Fischer, während er nervös an seiner Tasse nippt. „Angehörige nationaler Minderheiten dürfen sich dort nur in organisierten Gruppen bewegen. Sie dürfen nicht mal öffentliche Verkehrsmittel benutzen, geschweige denn private Autos besitzen.“ Die Menschen im Transithaus sind zwar dem Terror in Banja Luka, Bosanska Dubica oder Bosanska Gradiška entgangen. Aber sie haben alles verloren. Etwas hilflos stehen sie nun in den Gängen zwischen den NVA-Betten, die Fischer für das „Transithaus“ organisiert hat. Wie viele von ihnen wohl daran denken, wie sie bei sich zu Hause die Gäste aus Deutschland bewirtet hätten?
„Den Krieg überleben“ ist die einzige unabhängige und nichtkommerzielle Organisation, die bedrohte Bosnier evakuiert. Fast 3.400 Menschen hat Fischer seit Beginn seiner Arbeit vor 18 Monaten aus lebensgefährlichen Situationen herausgeholt. „Ein Tropfen auf den heißen Stein“, nennt er das. „Wir haben eine Reihe von sehr eindeutigen Informationen über eine neue Welle der ethnischen Säuberung in den serbisch besetzten Teilen Bosniens. Die Regierung Kroatiens weiß dies, aber sie ignoriert alle Meldungen.“
Am Beginn von „Den Krieg überleben“ stand ein Interview. Vor knapp zwei Jahren hatte der langjährige Radio-Reporter Fischer eine Bosnierin befragt, die ihn wenig später anrief und bat, ihren Bruder aus der „Serbischen Republik“ herauszuholen. Kurz zuvor hatte die deutsche Bundesinnenministerkonferenz die Visumfreiheit für bosnische Staatsbürger abgeschafft. Der einzige Weg, um ein Visum für Bosnier zu bekommen, ist seitdem die „Einladung“ durch eine in Deutschland ansässige Person – eine Einladung, die von Bundesland zu Bundesland mit sehr unterschiedlichen finanziellen Belastungen verbunden sein kann. Im schlimmsten Fall schließt die „Kostenübernahme“, auf die sich in Deutschland ansässige Gastgeber einlassen müssen, jede auch noch so große Arztrechnung ein. Der gelernte Komponist Martin Fischer ließ sich davon nicht schrecken; schließlich wußte er schon damals vom Ernst der Lage für die zu „nationalen Minderheiten“ herabgestuften Menschen katholischer oder muslimischer Religionszugehörigkeit. Doch als er die nötigen Papiere für seinen ersten „Fall“ zusammenhatte, stellte sich heraus, daß dieser ermordet worden war. „Mit ein paar Nachbarn war er in seine Kneipe gegangen, wie jeden Abend seit Jahren“, erzählt Fischer, während wir uns wieder Zagreb nähern. „Irgendeiner fing an, über Muslime zu hetzen, und zeigte mit dem Finger auf ihn. Da zog einer seiner Nachbarn die Pistole und drückte ab.“
Noch unter Schock startete der Journalist in Deutschland eine Anzeigenkampagne, und tatsächlich meldeten sich Hunderte von aufnahmebereiten Menschen. „Es war eine ganz, ganz große Welle durchdachter, engagierter und nicht irgendwie oberflächlicher Angebote. Die Anrufer von damals sind nach wie vor die eigentliche Basis unseres Vereins. Diese Leute haben mittlerweile zum Teil die zweite, dritte Flüchtlingsfamilie aufgenommen, weil die ersten irgendwann flügge geworden sind, Wohnung und Arbeit haben.“ Entlastung, die Fischer, seine Zagreber Mitarbeiterin Milena und die drei Kräfte in dem Bonner Büro von „Den Krieg überleben“ dringend brauchen: Der Verein hilft zunehmend nicht mehr nur Menschen aus der „Serbischen Republik“ auszureisen, sondern auch aus dem kroatisch besetzten „Herceg-Bosna“ und aus Sarajevo.
Von der aktuellen Welle der „ethnischen Säuberungen“ sind laut Fischer in den serbisch kontrollierten Teilen Bosnien-Herzegowinas rund 60.000 Menschen bedroht. „Den Krieg überleben“ wird nicht verhindern können, daß die allermeisten von ihnen von den Serben mit Bussen an die Frontlinien Zentralbosniens gefahren werden, um dort über Minenfelder in die Gebiete getrieben zu werden, die von der bosnischen Regierung kontrolliert werden. „Dabei ist Zentralbosnien allein schon aus versorgungstechnischen Gründen ein Katastrophengebiet“, sagt Fischer, „es ist also absolut unsinnig, die Leute dorthin zu bringen.“ Selbst die Versorgung der ansässigen Bevölkerung von Zenica oder Tuzla sei schon lange nicht mehr sichergestellt.
Fragt sich, warum nicht große Organisationen wie das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) Wege finden, um den Menschen eine „geordnete“ Abreise in sichere Gebiete zu ermöglichen. Martin Fischer ist fast amüsiert über die Frage. „Natürlich wäre es meiner Meinung nach die Aufgabe des UNHCR, den Leuten zur Flucht zu verhelfen“, spottet er. „Aber letztendlich ist dieser Verein eine Fluchtverhinderungs- Agentur. Das UNHCR kann kein Interesse an einer geordneten Flucht haben, zumal diese eigentlich nur nach Westeuropa führen könnte.“ Beachtenswert sei immerhin, daß die großen Organisationen den kleinen Verein „Den Krieg überleben“ existieren lassen. „Die deutsche Botschaft und das Bonner Außenministerium hätten natürlich jederzeit die Möglichkeit, uns abzudrehen. Aber aus irgendwelchen Gründen haben sie sich entschieden, uns doch spielen zu lassen. Die haben wohl eingesehen, daß wir ökonomisch nicht gefährlich sind und letztlich nur einen symbolischen Beitrag leisten.“
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