„Mal ganz kräftig geschimpft“

■ Pilotverfahren zu Mißhandlungen im DDR-Strafvollzug

Potsdam (taz) – Zum ersten Mal seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten steht ein ehemaliger Bediensteter einer DDR- Strafvollzugsanstalt wegen der Mißhandlung von Gefangenen vor Gericht. In Potsdam begann gestern der Prozeß gegen den 52jährigen V., der von 1968 bis 1992 Aufseher in der JVA Brandenburg war. Dem Angeklagten wird vorgeworfen, in 13 Fällen Gefangene mit Schlagstock oder Schlüsselbund geschlagen sowie mit Füßen getreten zu haben. Bei einem Häftling sollen die Mißhandlungen zu Lähmungen geführt haben.

Oberstaatsanwalt Rautenberg sprach von einem „Pilotverfahren“. Zum ersten Mal werde gerichtlich geprüft, ob die Mißhandlung von Gefangenen in der DDR, insbesondere von politischen Häftlingen, „von der Partei- und Staatsführung systematisch gedeckt und geduldet wurden“, sagte Staatsanwalt Jan van Rossum, der die Anklage vertritt.

Sollte das Gericht der Anklage folgen, muß die Verjährung der Taten gemäß dem Verjährungsgesetz bis zum 2. Oktober 1990 ruhen. Der Angeklagte könnte dann wegen schwerer Körperverletzung verurteilt werden. Teilt das Gericht diese Ansicht nicht, wäre laut Rautenberg der überwiegende Teil von Gefangenenmißhandlungen nicht mehr verfolgbar.

Der Angeklagte bestritt gestern die gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Er gab lediglich zu: „Nach Regelverletzungen mußten Gefangene mal ganz kräftig geschimpft werden.“ Bereits der erste Zeuge, der wegen versuchter Republikflucht inhaftiert war, konnte sich gestern „fast auf den Tag genau“ an die erste Begegnung mit V. erinnern. Im Februar 1981 mußte P. dem Angeklagten zu einem „Einweisungsgespräch“ in dessen Dienstzimmer folgen. Kurz vor der Tür habe V. ihm den Schlüsselbund „in die Nieren gerammt“. Die Verhandlung wird am Mittwoch fortgesetzt. Anja Sprogies