„Der ANC kommt derzeit sogar mit Mord davon“

■ Bei der Beurteilung von Vergehen rivalisierender Schwarzengruppen zeigt sich sogar die Goldstone-Untersuchungskommission auf dem „ANC-Auge“ blind

Ein Telefonanruf von Nelson Mandela genügte: Trotz Hausdurchsuchungsbefehls blies der Johannesburger Polizeichef eine geplante Razzia im ANC-Hauptquartier ab. Die Beamten sollten nach Waffen suchen, mit denen – so die Vermutung – bei den gewaltsamen Auseinandersetzungen am Montag vergangener Woche in der Innenstadt von Johannesburg geschossen worden war. Insgesamt 53 Menschen waren an dem Tag in der südafrikanischen Metropole ums Leben gekommen. ANC- Chef Mandela schickte die Beamten mit dem Argument nach Hause, sie würden erst dann hereingelassen, wenn zuvor die von Inkatha kontrollierten Männerwohnheime in den Schwarzensiedlungen durchsucht würden.

Mandelas ANC hatte allen Grund, die Razzia zu fürchten. Elf Menschen waren in einer Straße neben dem ANC-Hauptquartier „Shell House“ einer Schießerei zum Opfer gefallen. Die Version der Anti-Apartheid-Allianz: Die Sicherheitsleute hätten geschossen, um einen Inkatha-Angriff auf das Gebäude abzuwehren. Die Toten und Verletzten aber gab es an einer Straßenecke, an der sich nicht einmal ein Eingang zu der Parteizentrale befindet. Ein Anwohner, der die Ereignisse aus nächster Nähe beobachten konnte, erklärte: „Vier Männer traten aus dem ANC-Gebäude heraus, auf eine Terrasse über dem Erdgeschoß. Drei von ihnen trugen Handfeuerwaffen, der vierte ein Schnellfeuergewehr. Sie lehnten sich über die Brüstung und feuerten anschließend, ohne provoziert worden zu sein, ihre Magazine auf die Inkatha-Anhänger auf der Straße leer.“ Seit seiner Aussage lebt der Augenzeuge in ständiger Furcht vor Vergeltung.

„Der ANC kommt derzeit sogar mit Mord davon“, erklärte wenige Tage nach dem Gewaltausbruch in Johannesburgs Innenstadt Humphrey Ndlovu vom Inkatha-Zentralkomitee. Ein Satz, der von einem mit Menschenrechtsfragen befaßten ausländischen Diplomaten in der Hauptstadt Pretoria nahezu wörtlich wiederholt wurde. So kümmert sich derzeit etwa die Untersuchungskommission unter Leitung von Richter Richard Goldstone lediglich um Vergehen von Inkatha und der KwaZulu-Polizei.

Etwaige Vergehen des ANC dagegen werden nicht unter die Lupe genommen. Der Richter, so argwöhnen einige Südafrikaner, will sich seine berufliche Zukunft im „neuen Südafrika“ nicht verbauen. Südafrikas Regierung, der ANC sowie in Südafrika akkreditierte Diplomaten handeln im übrigen nicht viel besser. Alle taten sie sich zusammen bei der Suche nach Möglichkeiten, den Wahlboykotteur und Inkatha-Chef Mangosuthu Buthelezi in seinem Schwarzenreservat KwaZulu zur Räson zu bringen. Aber im Homeland Transkei kann ANC-Vasall Bantu Holomisa nach Belieben schalten und walten. Bis vor einigen Tagen durfte nicht einmal die Nationale Partei (NP) von Frederik W. de Klerk dort Wahlkampf machen.

Aber nicht nur die unterschiedliche moralische Meßlatte für genehme und weniger genehme Homeland-Diktatoren sowie Mandelas Nachspiel zum „Shell- House-Massaker“ geben Anlaß zur Sorge über das Verhalten des ANC nach den kommenden Wahlen. „Die Art und Weise, wie der ANC in den Townships regiert, wird nur deshalb hingenommen, weil die Organisation noch nicht die Rückendeckung des Staatsapparats besitzt“, meint ein ausländischer Polizeiexperte in Südafrika. „Ich fürchte, daß die politische Intoleranz in den Schwarzenvierteln unerträglich wird, wenn der ANC erstmal die Polizei kontrolliert.“

In vielen Orten haben sich die „Selbstverteidigungseinheiten“ (SDU), ursprünglich zum Selbstschutz gegen Angriffe von Todesschwadronen und Inkatha geschaffen, mittlerweile verselbständigt. Weil sie schwer bewaffnet sind, wagt niemand, gegen die vor allem aus Jugendlichen bestehenden SDU zu opponieren. In vielen Townships sind inzwischen „Känguruh-Gerichtshöfe“ entstanden, in denen „Volksjustiz“ ausgeübt wird – unter dem Vorsitz meist parteiischer Richter und mit zum Teil drakonischen Strafen.

Ein Priester im Township Soweto bei Johannesburg mußte erleben, wie entschlossen und schnell dabei gehandelt wird. Eine Gruppe von „Tsotsis“, Gangstern, hatte ihn überfallen, zusammengeschlagen und ausgeraubt. Der Priester berichtete von dem Vorfall in seiner Gemeinde. Nach einigen Tagen kam er auf die Idee, daß ein Gespräch mit den Tätern vielleicht ganz nützlich sein könnte. So bat er einige ANC-Jugendliche, ihm bei der Suche zu helfen. Nach anfänglichem Schweigen faßte sich einer der jungen Leute ein Herz und packte aus: Die Tsotsis seien längst tot – von einem Township-Gericht verurteilt und anschließend hingerichtet.

„Der ANC ist im allgemeinen nicht so gut organisiert und bewaffnet wie Inkatha“, glaubt eine „Friedensbeobachterin“ in Durban. „Die SDU neigen deshalb dazu, soft targets anzugreifen.“ Gemeint sind Frauen und Kinder. Die Sonntagszeitung Sunday Times warnte nach Mandelas Telefonanruf bei der Polizei bereits: „Unter der Apartheid-Regierung waren wir an Machtmißbrauch durch Politiker gewöhnt. Aber wo soll das enden, wenn der ANC das Recht schon zu seinen Gunsten biegt, bevor die Organisation überhaupt an der Macht ist...“ Willi Germund, Johannesburg