■ Nachbetrachtungen, betreffend die Schlagzeile „Jude als Nachbar ungern gesehen“
: Warum ausgerechnet hatte es mich erwischt?

Mit geradezu affenartiger Geschwindigkeit ist unsere kleine Stadt über den Schrecken hinweggekommen, den ihr neulich der Journalist Walfried Rospek versetzt hat. Sie erinnern sich? Vier Wochen ist es her, da entwich ihm in den „Bremer Nachrichten“ die Schlagzeile „Jude als Nachbar ungern gesehen“, und das war's dann gewesen. Nur der Verleger Ordemann, zuständig für die Geschäftsinteressen, sprang unverzüglich auf den Plan, entschuldigte sich knapp und nahm den Rospek aus dem Bild, woraufhin dieser kündigte.

Die Öffentlichkeit betrachtete den Vorgang und verfiel auf der Stelle in Stillschweigen. Die Redaktion der „Bremer Nachrichten“ schloß sich an und äußerte sich nicht. Es wurden keine Fragen laut, und es erhob sich keine Debatte, von vereinzelten Leserbriefen abgesehen und am besten auch von der einsamen Erklärung des Deutschen Journalistenverbandes (DJV), Abt. Bremen, worin die Reaktion des Verlegers als „überzogene und sozial angreifbare Reaktion“ beklagt wird, nicht ohne daß am Ende der DJV dem Verleger das Recht einräumt, „die von ihm vorgegebene grundsätzliche Haltung der Zeitung ... sicherzustellen.“

So erschöpfte sich der Fall in einem gewohnheitsmäßigen Konflikt zwischen dem Arbeitsgesetzbuch und andererseits dem „Tendenzschutzparagraphen“, der dem Verleger nun einmal Rechte gegen jederlei mißliebige Schreiber einräumt, und wenn es ein Grummeln hinter den Kulissen gab, dann beschränkte es sich auf die Frage, ob das denn wirklich nötig war, daß der arme Rospek gehen mußte.

Dabei ist die Schwere der Sanktion gleichgültig angesichts der Überschrift „Jude als Nachbar ungern gesehen“, und Rospek hätte gerne im Amt bleiben können, wenn nur diese erörtert worden wäre. Die Frage von Belang ist ja wohl, was es zu bedeuten hat, daß ausgerechnet einem Journalisten von legendärer Redlichkeit auf einmal solche Sätze aufs Papier fahren, und das auch noch über einem Artikel, mit dem er eigentlich „aufrütteln“ wollte.

Niemand hat es für nötig befunden, dieses Rätsel anzutasten, geschweige zu lösen. Es wohnt ihm ja auch ein gewisser Schrecken inne, wenngleich es sich beileibe nicht zum ersten Mal stellt: Nach den Morden von Solingen schrieb Michael Sontheimer, der Chefredakteur der taz, einen Kommentar gegen die Täter, und die glutvolle Anklage gipfelte in folgendem Satz: „In beiden Fällen töteten junge deutsche Männer Menschen, deren einziges Merkmal es war, kein deutsches Blut in den Adern zu haben.“ Kürzer geht es nicht. Noch indem Sontheimer mit Vehemenz die Opfer verteidigt, macht er schon darauf aufmerksam, daß es das „deutsche Blut“ sei, was ihnen fehle.

Mit einem einzigen Satz ist Sontheimer im Eifer des Wortgefechts zum Bekenntnis des „deutschen Blutes“ übergesprungen, vermutlich ohne es überhaupt zu bemerken, und der gute Rospek mußte nur ein wenig an die Menschen herantreten und an ihnen rütteln, schon fiel ihm vor Aufregung etwas ganz anderes aus der Tasche. Es ist, als brächte bereits die vorstellungsmäßige Annäherung an Gewalttäter und Antisemiten so manchen Deutschen vorübergehend um den Verstand, und gerade mitten in der Empörung des guten Willens muß das Gegenteil heraus.

Wir beobachten hierin den Übergang von der Mühsal der zivilisierten Selbstbeherrschung zum Phänomen des automatischen Sprechens. Menschen von anerkannter Harmlosigkeit können sich, als stünden sie unter Überdruck, momentan nicht mehr halten und reden in Zungen. Es sind, wie könnte es anders sein, mehr oder minder deutlich die Zungen der faschistischen Unvergangenheit.

Keine zwei Wochen ist es her, da setzte sich die Gräfin Dönhoff hin, um auf der ersten Seite der „Zeit“ über den Brandanschlag auf die Lübecker Synagoge zu schreiben: „Der Brandanschlag auf die Synagoge in Lübeck war ein Höhepunkt niederträchtiger Brutalität. Gewalt: gezielte, hinterhältige, abgefeimte, wie in diesem Fall, aber auch ungeplante, zufällige, sinnlose Gewalt greift überall und immer mehr um sich. In Kalifornien erschoß kürzlich eine Fünfzehnjährige...“ und schon ging es dahin mit ihr über den ganzen Planeten des Verbrechens; von polnischen Ärzten schrieb sie, die Kinder verkauften, und vom Übermaß der Freiheit, und gleich nach dem ersten Satz hatte sie die brennende Synagoge komplett vergessen, ja es war, als folge sie einer inneren Stimme blindlings hinaus auf dem Ozean der Schlechtigkeit, um die Tat von Lübeck darin zu versenken.

Spräche man sie darauf an, wäre sie wohl nicht weniger gekränkt, als es Walfried Rospek war. Dieser zeigte die typische Mischung von Reumut und Trotz und verbreitete nach seiner Kündigung einen offenen Brief, in dem er Länge mal Breite die Geschichte seiner Überschrift erklärte und nicht sparte mit Äußerungen der Wehsal über die Folgen, die sie ihm selber eingebracht hatte: „...warum ausgerechnet hatte es mich erwischt, warum ausgerechnet mußte ich mir den Kopf über die Überschrift zerbrechen? Denn das Thema Juden ist nun einmal ein sensibles...Ich ein Antisemit?...Wer mich kennt...“ und so fort, bloß fiel es ihm vier Seiten lang an keiner Stelle ein, sich bei den Juden zu entschuldigen oder sonst ein Wort des Bedauerns zu äußern, ja er vermochte es bei aller glaubhaften Zerknirschung nicht einmal, seine Überschrift für verfehlt zu halten. Höchstens, daß er seine Worte nun „mit gemischten Gefühlen“ betrachte, aber in Wahrheit sei es doch im Sinne des Aufrüttelns so, „daß die Schlagzeile genauso schockierend sein durfte wie das, was im Text stand: Jeder fünfte will keinen Juden zum Nachbarn.“

Daß die Schlagzeile genau so schockierend, ja genau so klipp und klar formuliert war, wie es nötig ist, um sie jedem Naziblockwart zum Anschlag zu empfehlen, das ging dem Manne nicht mehr über die Lippen. Einer, der sich vermutlich schämen würde, wie ein alter Kamerad von „dem Russen“ zu sprechen, spricht wie ein alter Antisemit von „dem Juden“ und findet hinterher nur, das hätte vielleicht den falschen „Touch“ gegeben.

Ja, wenn es einmal aus einem gesprochen hat, dann kann man schwerlich mehr zurück, und wir machen uns wohl besser darauf gefaßt, daß die Geschichte von den guten Menschen und dem automatischen Sprechen noch gar nicht richtig angefangen hat.

Manfred Dworschak