„Ghettos sind der Ort des Untergangs“

Der seit 1975 inhaftierte Lutz Taufer versucht sich an der Geschichte der „Rote Armee Fraktion“ / Die tiefen Differenzen zwischen einzelnen Fraktionen reichen zurück bis zur RAF-Attentatsserie des Jahres 1977  ■ Von Gerd Rosenkranz

Für den seit 19 Jahren inhaftierten Taufer ist die gegenwärtige Spaltung zwischen der RAF und der Mehrheit der RAF-Gefangenen „nur die Endmoräne“. Zum Beleg taucht er weit zurück in die Geschichte der RAF und zeichnet erstmals öffentlich die ideologischen Auseinandersetzungen nach, die mit der Entführung der Lufthansamaschine „Landshut“ von Mallorca nach Mogadischu während der Schleyer-Entführung im Oktober 1977 ihren ersten Höhepunkt erlebten.

Die Härte und Bitterkeit, mit der frühere RAF-Mitglieder im vergangenen Herbst ihre Verbalinjurien aufeinander abschossen, stand in offensichtlichem Mißverhältnis zum Anlaß der Kontroverse. Mit Wissen und ausdrücklicher Billigung der in Celle inhaftierten Karl-Heinz Dellwo, Knut Folkerts und Lutz Taufer hatte der frühere RAF-Anwalt und heutige Funktionär von Bündnis 90/ Die Grünen, Hans-Christian Ströbele, im Frühjahr 1993 einen unkonventionellen Anlauf unternommen, die Verantwortlichen in Bonn zur Freilassung der Langzeitinhaftierten der linken Guerilla zu motivieren. Ströbele nahm Kontakt zu Industriellen wie dem Daimler- Benz-Chef Edzard Reuter auf. Sein Kalkül: Die Manager, die bis zur „Deeskalationserklärung“ der RAF vom April 1992 im Fadenkreuz der Gruppe gestanden hatten, sollten – in wohlverstandenem Eigeninteresse – die Bundesregierung zu mehr Beweglichkeit in der Gefangenenfrage veranlassen.

Doch die von den Celler Gefangenen inspirierte und zuletzt von der Untergrundgruppe in einem Schreiben vom 6. März nachträglich gebilligte Initiative kam gar nicht erst in Gang. Was die Verfechter des Dialogversuchs nicht ahnen konnten: Praktisch gleichzeitig traten die Vorbereitungen des Staatsschutzapparates für die Festnahmeaktion von Bad Kleinen in ihre heiße Phase.

Das Interesse der verantwortlichen Politiker an einer „friedlichen Lösung“ tendierte angesichts des erhofften Fahndungserfolgs gegen Null. Der Dialogversuch hatte sich längst totgelaufen, als die RAF- Gefangene Brigitte Mohnhaupt ihn Ende Oktober im Namen der meisten anderen Gefangenen öffentlich machte und zum Auslöser für die endgültige Spaltung des RAF-Zusammenhangs stilisierte.

Mit der Celler Initiative, behauptete Mohnhaupt, sei der „Endpunkt der Entwicklung in die politische Agonie erreicht, die 1992 damit anfing, daß die Grundlagen unserer Politik weggekippt wurden, und die heute damit aufhört, daß unser Leben und unser Kampf hinter unserem Rücken abgewickelt werden sollen“. Tatsächlich hatten die Celler Gefangenen die Genossen in anderen Knästen nicht vorher von ihren Aktivitäten informiert, weil sie fest – und zu Recht – mit deren rigoroser Ablehnung rechnen mußten.

Teils im Vorfeld, teils in der Folge der öffentlichen Kontroverse ergoß sich über die Celler, aber auch über die in Bad Kleinen festgenommene Birgit Hogefeld und die Illegalen im Untergrund eine Flut von Schmähschriften der anderen Gefangenen. Christian Klar unterstellte Dellwo und Taufer platten Opportunismus: Sie suchten „nach einem Platz im neuen Reich“ und wollten sich für die Zeit nach ihrer Freilassung „eine Nischenzukunft sichern“.

Dellwo seinerseits warf in der taz seinen Ex-Genossen eine „Simulation von Wirklichkeit“ vor. Ihre Anwürfe seien aus dem Bedürfnis geboren, sich der politischen Widersprüche innerhalb des RAF-Zusammenhangs „mit moralischen Verdächtigungen zu entledigen“. Die RAF selbst reagierte Anfang November mit einem wütenden Pamphlet auf die „flache Polemik“ Mohnhaupts und ihrer Anhänger. Die Gefangenen um Brigitte Mohnhaupt spielten sich als „Gralshüter der Option des bewaffneten Kampfes oder der revolutionären Intervention in der Metropole“ auf, hätten aber zur von der RAF seit 1992 versuchten Neuorientierung „nichts Substantielles“ beizusteuern, erregten sich die Illegalen.

Möglicherweise war es das Entsetzen der Unterstützerszene über diese so ungeschminkt von persönlichen Abrechnungen statt politischer Analyse dominierte Form der Auseinandersetzung, die zum vorläufigen Abbruch der Briefschlacht führte. Lutz Taufer jedenfalls gibt sich in seinem neuen Papier moderat. Auf 48 Seiten – die der Arbeiterkampf in voller Länge abdruckt – will Taufer „etwas erklären, statt zu polemisieren“.

Die Solidaritätsaktion eines palästinensischen Kommandos sollte die Bundesregierung im Herbst 1977, als die „Landshut“ entführt wurde, veranlassen, elf Gefangene der RAF gegen Schleyer und die Mallorca-Urlauber auszutauschen. „Aktionen der RAF richten sich niemals gegen das Volk!“, protestierte damals, schon aus dem Gefängnis, Karl-Heinz Dellwo in einem aus dem Knast geschmuggelten Papier an die Gruppe draußen und wiederholte damit einen vom RAF-Gründer Andreas Baader ausgegebenen Imperativ. Zu den Kritisierten gehörte schon damals Brigitte Mohnhaupt, die die Aktion mindestens gebilligt hatte. Jahre später erklärte derselbe Gefangene: „Wäre es dort [in Mogadischu, d. Red.] zu einem von uns mitverschuldeten Massaker gekommen, hätte ich mich umgebracht.“ Die Guerilla habe sich mit der Landshut-Entführung „in eine absolut legitimationslose Lage gebracht“.

Taufer sieht Mogadischu heute als Ausgangspunkt einer „Entpolitisierung der militärischen Aktion“. Während für die RAF- Gründer als Kinder der 68er Revolte auch in der „revolutionären Aktion“ dem Politischen Vorrang gebührte vor dem Militärischen, habe sich in den 80er Jahren ein Bedeutungswandel vollzogen. Ergebnis: „Die militärische Aktion wird zum Begriff des Revolutionären schlechthin.“

Dabei nimmt Taufer die 68er und die RAF-Gründer ausdrücklich in Schutz vor der nachträglichen „Weisheit der Resignierten“, die heute mit einem „schon perversen Reinigungsbedürfnis alles und jedes in den Dreck treten, was 68 war“. Der weltweite Aufstand gegen „US-Imperialismus, Kolonialismus und vermeintlich delegitimierten Spätkapitalismus“ sei damals immerhin von solcher Wucht gewesen, „daß dieser Irrtum, das imperialistische System jetzt, in gemeinsamer Front, kippen zu können, unbedingt begangen werden mußte“.

Die 77er Offensive der RAF falle jedoch in eine Zeit, in der die „historische Welle bereits am Auslaufen“ war. Bei nachfolgenden Generationen der linken Militanten konstatiert er einen „Mentalitätswandel“. Nicht mehr die Aussicht auf den „Marsch durch die Institutionen“ und die Hoffnung, „Entfremdung, Kaputtheit und Destruktivität aus dieser Welt hinaustreiben zu können“, motiviere seither den radikalen Protest, sondern der schlichte und verständliche Anspruch auf ein „Recht auf Existenz diesseits weltmarktdiktierter Rentabilitätsnormen“, wie er sich etwa in der Welle von Hausbesetzungen Anfang der 80er Jahre in Berlin und anderswo manifestiere.

Wegen dieses Motivationswandels bei den linken Militanten kam das „Front-Konzept“, ein Theorie- Papier der RAF, das im Mai 1982 erstmals veröffentlicht wurde, um etwa zehn Jahre zu spät. „Auf Teufel komm raus“, schreibt Taufer, werde dort eine „weltweite front gegen das imperialistische gesamtsystem“ nur noch „voluntaristisch imitiert“, die in der Realität zu diesem Zeitpunkt bereits obsolet geworden sei.

Die RAF habe sich mit der Vorstellung einer einheitlichen Guerillafront in den Industriemetropolen „ganz bewußt auf die militanten, radikalen Teile der Linken, auf marginalisierte Bereiche der Gesellschaft“ beschränkt, ohne überhaupt den Anspruch zu erheben, über dieses Ghetto hinaus Wirkungen zu entfalten. Ghettos jedoch, schreibt Taufer, „sind der Ort des Untergangs“. So mündete das Frontkonzept unter dem Schlachtruf „zusammen kämpfen“ – es war immerhin die erste zusammenhängende Strategievorstellung der RAF seit zehn Jahren gewesen – „in einer noch verbohrteren Geringschätzung des Politischen, sprich: unbewaffneten Handelns.“

Taufer ist überzeugt, daß es so nicht hätte kommen müssen. Mindestens einmal, im Verlauf der Kampagne zum Hungerstreik der Gefangenen um die Jahreswende 1984/85, habe sich die Szene vom Korsett der Front-Idee emanzipiert und eine „konzertierte Dichte befreiend wirkender, phantasievoller, radikaler Initiativen“ gestartet. Doch statt damals die richtungweisende Mobilisierung aus dem „Spontan-Zufälligen in den Bereich des Kontinuierlichen, Strukturierten, Verknüpften und so Identifizierbaren“ zu transformieren (worunter Taufer ausdrücklich nicht die Gründung einer „Kommunistischen Partei“ verstehen will), sei dieser Versuch von der RAF abgebrochen worden.

Die Guerilla kehrte schon am Ende des Hungerstreiks zu schwersten Anschlägen zurück. In der Nähe von München ermordete die RAF den MTU-Chef Ernst Zimmermann. Im Sommer tötete ein weiteres Kommando den zwanzigjährigen GI Edward Pimental per Genickschuß, um sich mit seiner Identitätskarte Zugang zur US-Airbase in Frankfurt zu verschaffen, wo eine am selben Tag gezündete Autobombe eine Hausfrau und einen weiteren US- Soldaten tötete.

Die anschließende Debatte, die damals an den Nerv der linksradikalen Szene rührte, sei von den Verteidigern des Pimental-Mordes in einer Weise geführt worden, die „jenes Zusammen-Kämpfen, wie es Monate zuvor zum ersten mal sichtbar geworden ist, strategisch beschädigte. Man/frau schlug sich gegenseitig Wunden, die späteres Zusammenarbeiten völlig blockierten.“

Ausführlich widmet sich Taufer dann dem ersten Versuch der Gefangenen und später der RAF selbst, aus dieser Selbsteinbetonierung im Militärischen und Illegalen auszubrechen. Mit dem bisher letzten Hungerstreik von Februar bis Mai 1989 war es immerhin gelungen, nicht nur weite Teile des linksliberalen Spektrums an das Schicksal der Langzeithäftlinge zu erinnern, sondern erstmals auch den „seit fast 20 Jahren bestehenden monolithischen Block der politischen Klasse, des Staatsschutzbunkers und der Medien“ aufzubrechen.

Doch die „große politische Auseinandersetzung mit allen gesellschaftlichen Gruppen“, die die Gefangenen während des Hungerstreiks eingefordert und angekündigt hatten, blieb aus. Erwartungen seien geweckt und dann nicht eingelöst worden, kritisiert Taufer. Schon im Herbst nach dem Hungerstreik hatte Helmut Pohl die Fahne der Diskussionsbereitschaft in einem Schreiben an die Szene demonstrativ wieder eingerollt. Wenige Wochen später sprengte die RAF den Chef der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, zu Tode.

Die radikale und überfällige Kehrtwende der RAF und der Gefangenen seit 1992 habe er dann „nach all den Jahren der krampfhaften Nicht-Diskussion als wirklich befreiend empfunden“, gesteht Taufer. Dabei sei es eine Legende, daß sich diejenigen, die heute die Spaltung vollzogen hätten, von Anfang an der deeskalierenden Entwicklung verweigerten. Anhand zahlreicher Zitate seiner inhaftierten Ex-Genossen belegt er den Versuch eines gemeinsamen Aufbruchs, der beispielsweise in der im Namen aller Inhaftierten abgegebenen Erklärung der Gefangenen Irmgard Möller zum Deeskalationspapier der RAF aus dem April 1992 ihren Ausdruck fand.

Der Möller-Brief sei „eine authentische Auskunft darüber, wo sich die Gruppe im Frühjahr 1992 befand“. Selbst die Kinkel-Initiative zur schrittweisen Entlassung der RAF-Gefangenen – heute allenthalben als staatlicher Spaltungsversuch entlarvt – sei damals „grundsätzlich von niemandem verworfen“ worden.

Gleichzeitig lehnte die Mehrheit der Gefangenen jedoch (bisher in der Öffentlichkeit unbekannte) Versuche insbesondere von Karl-Heinz Dellwo kategorisch ab, mit einer eigenen Erklärung der Inhaftierten auf die Kinkel-Initiative zu reagieren. Im April 1992 habe die RAF dann die Deeskalationserklärung veröffentlicht, „um dieses Vakuum zu füllen“. Mit dieser und nachfolgenden Wortmeldungen nimmt Taufer die RAF in Schutz, „wollten sie nicht nur den formalen Schritt [Verzicht auf Anschläge, d. Red.], sie wollten einen inhaltlichen, sich als Subjekt zur eigenen Geschichte verhalten“. Und weiter: „Das Problem ist doch nicht, daß die Illegalen diesen Weg eingeschlagen haben, sondern daß zu viele zurückgeblieben sind“.

In den Spaltungstexten des Herbstes 1993 finde sich als Antwort auf die tastenden Aufarbeitungsversuche der Illegalen nur „inhaltslose Härte“, verknüpft mit der altlinken Erwartung, die Menschen würden nach dem Durchmarsch des Kapitalismus ihre wahre Lage schon erkennen und revolutionäre Auseinandersetzungen ganz von allein auslösen. „Solch ein Szenario“, glaubt Taufer, „ist so realitätsverträglich wie das der weltweiten resp. der westeuropäischen Front der 80er Jahre“. Tatsächlich komme gar nichts auf die Revolutionäre zugeflogen, vielmehr müsse die „praktische Initiative auf die Menschen zufliegen“. Und zwar auf realpolitischen Bahnen: Am wichtigsten sei aktuell „eine möglichst breite Front gegen die Gefahr von Faschismus“.