■ Justizposse
: Streit um Eichstrich

Haben Sie schon mal gedankenverloren auf Ihr Bierglas respektive den dort befindlichen Eichstrich geblickt? Und sich vielleicht gefragt, ob dies Strichlein überhaupt eine Funktion hat? Wo doch jeder Kneipier, der was auf sich hält, ihn nur soweit beachtet, als er ihn zu seinen Gunsten ignoriert.

Man unterschätze die Bedeutung der millimeterdünnen Linie nicht. Sie hat bei einer Schöneberger Kiez-Kneipe zu einem einjährigen Papierkrieg geführt, der kürzlich in einer Gerichtsverhandlung seinen Höhepunkt fand. Und das nur, weil der Eichstrich fehlte. Der Gewerbeaußendienst der Polizei hatte bei einer Routinekontrolle festgestellt, daß weder die Whisky- noch die Futschi- Gläser einen Füllstrich besitzen. Futschi, das legendäre Zweikomponentengetränk aus Weinbrand und Cola, wird in besagter Kneipe zwar gar nicht ausgeschenkt, aber egal. Die Beamtenseele begehrte auf. Statt aber das Bußgeld zu zahlen, recherchierten die Kneiper und stellten fest: Futschigläser werden im Handel lupenrein – ohne Strich – verkauft. Wer messen will, der messe mit dem Meßbecher. So macht's schließlich jeder.

Aber warum einfach, wenn's auch komplizierter geht. Wer die Eichordnung wiederholt verletzt, muß vor den Kadi. Zwei Stunden höchstrichterliche Arbeitszeit am Amtsgericht Tiergarten wurden beansprucht. Schließlich muß man die Beschwerde eines Beamten ernst nehmen. Doch ein Anruf bei der Innung für das Hotel- und Gaststättengewerbe sowie beim Fachhändler überzeugte die Justiz: Nein, es gibt keine Futschigläser mit Eichstrich. Ob eine Sonderanfertigung gewünscht würde? Nein, danke. Man zog vor, das Verfahren fallen zu lassen. Wenn es keine Schankgefäße gibt, die den eichrechtlichen Vorschriften entsprechen, dann ist das Gesetz das Problem, nicht das Gefäß, so der Richter.

Die Kosten des Verfahrens trägt der Steuerzahler. Doch das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Das Landesamt für Meß- und Eichwesen wird die Innung über die Rechtslage aufklären. Und da Gesetze stärker sind als Gewohnheiten, wird die Eichglasindustrie einen ungeahnten Aufschwung erleben. (AZ 329 OWi 794/93) Annette Leßmöllmann, freie Autorin