Kleines Schleifchen

■ Bei der Pariser Aids-Aktion feierte sich das Establishment

„Guten Abend. Ich heiße Barbara, 19 Jahre, HIV-positiv. Vor zwei Jahren lernte ich einen Jungen kennen. Er wußte, daß er den Virus hatte, aber er sagte nichts. Aus Angst, mich zu verlieren. Das war meine erste und meine letzte Liebesgeschichte.“

Die junge Frau steht zitternd vor Aufregung am Mikrofon. Vor ihr sitzt Frankreich und lauscht dem Geständnis: Tausende im Pariser Zénith, wo die Soirée „Alle gemeinsam gegen Aids“ stattfindet. Millionen zu Hause, wohin sieben TV-Kanäle die Veranstaltung live übertragen. In den tosenden Applaus für die schöne Barbara, die den Donnerstagabend eröffnet, mischen sich erste Tränen.

Das europäische Land mit den meisten HIV-Positiven feiert seine erste große Aktion gegen den Virus. Mit einer Mischung aus Aufklärung und Showbusineß soll das Fernsehen „Hoffnung machen“ und Geld für die Forschung und für die Betroffenen sammeln (taz vom 7.4.). Von 20.50 bis 3 Uhr morgens ist jedes Zapping sinnlos: überall dasselbe Programm, dieselben Moderatoren und dieselben Bilder. Nirgends Werbung und nirgends ein Entweichen vor dem einen großen Thema: Aids.

Der Star des Abends ist das Präservativ: „Benutzt es, als Hommage an die, die uns so früh verlassen haben.“ Als der Armenpriester Abbé Pierre angesichts der Qualitätsmängel bestimmter Marken zu dem „einzig sicheren Präservativ: die Treue“ rät, geht ein Pfeifkonzert durch den Saal. Die Großmutter einer Aidskranken hält dagegen: „Ich bin katholisch und für Präservative.“

Alles, was sich wichtig fühlt, ist vertreten, sogar ein paar internationale Stars wie Liza Minelli und Charles Aznavour sind gekommen. Eine Gruppe von WissenschaftlerInnen, darunter ein paar Dutzend Nobelpreisträger, ist im letzten Moment allerdings wieder ausgeladen worden. Sie hatten Anfang des Jahres eine Kampagne für die Begnadigung von Michel Garretta lanciert, der als Verantwortlicher für den Bluttransfusionsskandal im Gefängnis sitzt. VertreterInnen der über 1500 per Transfusion infizierten BluterInnen hatten gegen die Teilnahme jener Wissenschaftler protestiert.

„Sagen Sie etwas Positives“, fordert der Moderator um 2 Uhr morgens einen jungen Mann auf, der sich darüber beklagt, daß es zwar Präservative zu einem Franc, nicht aber Spritzen zu diesem Preis gibt. Nirgendwo sonst in Europa ist die Aids-Infektion so hoch wie bei den rund 150.000 bis 300.000 FixerInnen in Frankreich. Während in London vier Prozent der Fixer HIV-positiv sind, beträgt die Zahl in Paris 40 Prozent. Erst seit Ende der 80er Jahre ist der Spritzenverkauf legal, bis heute weigern sich zahlreiche Apotheken, sie zu verkaufen. Frankreich hat ganze zehn Spritzentauschstellen und insgesamt 77 Plätze zur Methadonbehandlung.

„Für uns gibt es keine guten oder schlechten Kranken“, hatten die Moderatoren zum Auftakt der Soirée angekündigt. Sie wollten niemanden fragen, wo und wie er sich infiziert habe. Die FixerInnen im Publikum mußten warten. Gegen Mitternacht begannen sie ein erstes Pfeifkonzert. „Ruhe, die jungen Leute. Wir kommen gleich zu dem Thema“, riefen die Moderatoren ins Publikum. „Das ist wie immer: Wir werden vergessen“, sagte später einer ins Mikrofon. Stunden zuvor hatte der Präsident von „Act-Up“ bitter erklärt, daß „Alle gemeinsam gegen Aids“ erst zustande gekommen sei, nachdem die Gefahr auch die Heterosexuellen bedrohe.

Die „Weltpremiere“ im französischen Fernsehen hatte sich Wochen vorher mit einem roten Bändchen angekündigt. Die einfache Schleife, mit einer goldenen Sicherheitsnadel ans Revers oder Dekolleté geheftet, tauchte zuerst in den Hauptnachrichtensendungen auf. Dann machte sie die Runde durch das Regierungskabinett. In den Tagen vor der Soirée schließlich, unterschied das Bändchen in Paris das Establishment von den anderen. Wer dazugehört, trägt das Bändchen.

Die Soirée versucht Anworten auf alle möglichen Fragen. Warum die Forschung noch nicht weiter ist. Warum es so schwer ist, die Familie zu informieren. Warum das Essen auf den Aids-Stationen der Krankenhäuser so schlecht ist. Die Schauspielerin Clémentine Célarié küßt einen jungen HIV-Positiven auf den Mund. Aufklärungsfilme bestätigen ihre Botschaft: Die Franzosen erfahren, daß Spucke nicht ansteckend ist.

Am Ende sind 50 Millionen Francs (rund 15 Mio. DM) Spenden eingelaufen — auch wenn in den kommenden Tagen weitere Schecks erwartet werden, ist das gemessen am Aufwand eine geringe Summe. Der triste Europa- Rekord, den Frankreich bei HIV- Infektionen stellt, war kein Thema. Auch nicht die versäumten Methadon-Programme und schon gar nicht die Verantwortung von MedizinerInnen und PolitikerInnen für die HIV-Infizierung bei BluterInnen. Bei „Alle gemeinsam gegen Aids“ hat sich „die französische Elite selbst verteidigt“, sagte der Philosoph André Glucksmann am Tag danach. Dorothea Hahn, Paris