Wer war Tanja Schucht?

■ Ein Buch über Antonio Gramsci und die lebenswichtige Frau „hinter ihm“

Aldo Natoli, kürzlich achtzig Jahre alt geworden, ist ein kluger, ein weiser Mann, was man nicht von vielen alten Linken sagen kann. Die Jahre des Faschismus verbrachte er als Kommunist größtenteils im Gefängnis, dann war er einer der führenden Kader der Partei für die Stadt Rom, 1972 wurde er mit den Manifesto-Dissidenten aus der Partei ausgeschlossen – und wenn jemand heute ein ausgewogenes, ein reflektiertes Urteil über die Geschichte der KPI, über ihre Nachfolgeorganisation PDS und über die italienische Linke im allgemeinen sucht, dann ist er bei Natoli gut aufgehoben.

Er dürfte heute einer der besten Kenner sein, auch wenn er nur einen Bruchteil von dem geschrieben und publiziert hat, was er weiß. Man erhält von ihm keine schnellen und griffigen Antworten, vielmehr Subtiles, Komplexes, Nachdenkenswertes, in die Geschichte hinein Offenes. Das gilt auch für seine sorgfältige Rekonstruktion (hier hat der überstrapazierte Begriff noch seine wahre Bedeutung) der Beziehung zwischen Tanja Schucht und Antonio Gramsci. Diese Beziehung erfaßt wie in einem Brennspiegel die finsteren Zeiten zwischen Faschismus und Stalinismus, wo der selbstverständliche Kampf gegen ein Übel zu tragischen Verstrickungen in ein anderes Übel führte.

Gramsci, der unbestreitbar führende Kopf der italienischen Kommunisten, hatte 1922 in Moskau Julia Schucht kennengelernt und geheiratet, die ihrerseits eine Schwester Tanja hatte, die in Rom lebte. Als Gramsci 1926 von einem faschistischen Sondergericht zu zwanzig Jahren Haft verurteilt wurde – Julia war in Moskau geblieben –, war Tanja seine einzige Verbindung nicht nur zu seiner Frau und dem Sohn Delio (der übrigens noch in Moskau lebt), sondern überhaupt zur Außenwelt und nicht zuletzt zur Partei, für die Tanja eine wichtige Informationsquelle über den berühmten Gefangenen war. Mehr als zehn Jahre – bis zu seinem Tod 1937 – hat Tanja Schucht Antonio Gramsci betreut, einen ausführlichen Briefwechsel mit ihm geführt, ihn ständig besucht und von diesen Besuchen wiederum an andere Briefpartner berichtet.

Wie so oft der Fall bei den Briefwechseln der Großen und Prominenten: Diese werden irgendwann einmal veröffentlicht (die Gramsci-Briefe sind auch in deutscher Übersetzung demnächst zugänglich), aber die Briefe der Adressaten gelten als unwichtig, als bloße Folie für die Klassiker – insbesondere, wenn es sich um Frauen handelt: Was können sie schon Bedeutendes zu sagen gehabt haben... Aber ohne jene Tanja, so läßt sich zugespitzt aus Natolis sorgfältiger und einfühlsamer Rekonstruktion eines im Laufe der Jahre immer komplexer und auch intimer werdenden Verhältnisses entnehmen, gäbe es gewissermaßen keinen Gramsci: denn das, was ihn bis heute berühmt gemacht hat als den unorthodoxesten und kreativsten Denker der europäischen Linken nach Luxemburg, ist der Gramsci der Gefängnisschriften – und die wären ohne Tanja Schucht wahrscheinlich verlorengegangen. Sie hat Gramscis Erbe für uns gerettet. Das allein rechtfertigt schon Natolis eindrucksvolle, unaufdringliche Studie. Sie ist ein Kapitel mehr in der wachsenden Literatur über die Rolle der Frauen im Leben und vor allem für das Werk der „großen Männer“, jener Frauen, die fast immer im Dunkel der Geschichte geblieben sind. Die Partei, die sich so viel zugute hielt auf ihren Kampf für die Emanzipation der Unterprivilegierten, hat bei der Hagiographie des großen Gramsci die Auswertung der Schucht-Briefe nie für nötig gehalten – bis der kluge alte Dissident Natoli sie entdeckte und sich ihrer annahm.

Es ist eine bewegende, psychologisch auch spannende Lektüre, dieses Verhältnis zwischen dem Opfer faschistischer Willkürjustiz und gleichzeitiger Isolation seitens der Partei (Gramsci wurde zu Recht verdächtigt, Gegner des Stalinismus zu sein) einerseits und einer den Staatsfeind solidarisch- schwesterlich betreuenden „Antigone“ andererseits, die den oft verzweifelnden Gefangenen immer wieder psychologisch aufrichten mußte und wenig dafür empfangen konnte. Sie hat sich ihm buchstäblich zum Opfer gebracht – beide wurden sie Opfer der finsteren Zeiten. Peter Kammerer, der die deutsche Übersetzung mit großer Sorgfalt angefertigt hat, hat in seinem schönen Vorwort das Buch zu Recht einen „Roman in Briefen“ genannt. Ihn geschrieben und damit eine bemerkenswerte Frau der Geschichte zurückgegeben zu haben, dafür darf man Aldo Natoli dankbar sein.

Tanja Schucht starb, nachdem sie Gramscis Asche beerdigt und seinen schriftlichen Nachlaß sicher untergebracht hatte, in Entbehrung und vergessen in Rußland auf der Flucht vor den deutschen Truppen 1943. Ekkehardt Krippendorf

Aldo Natoli: „Tanja Schucht und Antonio Gramsci. Eine moderne Antigone“. Übersetzt und eingeleitet von Peter Kammerer. Cooperative-Verlag, Frankfurt/Main 1993, 269 Seiten, 48 Mark