Leere Pathosformeln

Allerhand Loneliness: Koltès' „Dumpfe Stimmen“ in der Akademie der Künste Berlin  ■ Von Michaela Ott

Die konkrete Poesie hat es gewußt: Es genügt, Wörter wie Liebe, Einsamkeit, Angst dreimal laut zu wiederholen, damit sie als leere und beliebige Buchstabenfolge erklingen, damit ihnen jeder emotionale Gehalt abhanden kommt. Selbst die Philosophie war nicht gefeit dagegen; in Ernst Jandls Mund ward' sie bald zu „viel zu viel Sophie“ mutiert.

Die Grundregel des alten Goethe, daß, wenn Traurigkeit mit einem Text intendiert ist, das Wort traurig nie vorkommen darf, ist wohl nie ins Welschland gedrungen. Sonst wäre ein Hörstück wie „Dumpfe Stimmen“ von Bernard- Marie Koltès nie entstanden, das eine Übung in Sinnentleerung im oben genannten Sinn vorzustellen scheint.

Schon, wenn die erste Stimme – in Gestalt eines Mannes als Schatten an die Saaldecke vergrößert – mit ihrem Lebensgeständnis droht, ahnt der Zuschauer, was ihm an Schwerwortigem blüht; wenn dann das Mädchen mit dem kurzen Röckchen (Andrea Solter) die Frau in dem langen Roten (Ursula Werner) mit Liebesworten und Schere beginnt aufzuschlitzen und dabei Todesdrohungen gegen ihre Mutter (Irm Hermann) ausstößt, wenn diese von Winden und Nebeln redet und der Ledermann (Uwe Steinbruch) Liebe mit Langeweile vermengt, findet oben genannte Regel zu ihrer Ausnahme: Die wortreich beschworene Langeweile hat sich sanglos und klanglos beim Zuschauer eingestellt.

Diese ist indes nicht nur Bernard-Marie Koltès anzulasten. Denn was er als Hörspiel konzipiert hat, wurde hier unter der Regie von Gert Hof und der Dramaturgie von Nina Hof auf die große Bühne der Akademie der Künste gehievt. So ist eine Art monumentaler Sprechgesang entstanden, in dem der Klagegesang jedes einzelnen wie Arie auf Arie folgt. Die sieben Protagonisten, die fast immer allein, selten zu zweit die Bühne betreten, legen ihre Monologe als geschlossene Klangkörper in einer Mondlandschaft ab.

Die „tauben“ Wörter antworten nicht aufeinander. Während im Programmheft Kämpfe und Kriege zwischen Menschen herbeizitiert werden, sind auf der Bühne statuarische Deklamatoren zu sehen. Trotz der von ihnen benutzten Bindewörter wie Liebe, trotz der angedrohten Gewaltakte, trotz verschiedener Versuche der Verletzung, berühren diese „schwarzen Engel“ sich nicht. Ihre Kämpfe um Freiheit sind das Klappern ihrer eigenen Flügel. Das „Heizhaus der Hölle“ ist ihre Auswendigkeit. Die „dumpfen Stimmen“ laufen in der monotonen Tiefe der 72er Geschwindigkeit ab. Die Schauspieler sind, was sie nur darstellen sollten: leere Pathosformeln.

Heiner Müller sagt, ein Theaterstück sei gut, wenn es eine zweite Ebene hinter dem Gehörten zum Hören bringt; von dieser Umsetzung ließe sich sagen, daß die zweite Ebene die erste verschlungen hat. Bereits beim Betreten des Raumes springt einen das Metaphysische an. Die in Schwarzlicht getauchten fahlen Zuschauergesichter ruhen gelegentlich auf einem blauweißen Hemdkragen auf. Ein blauweißes Brustteil betritt alleine die Bühne. Und wie die Neonseile, die vom Zuschauerraum in die Bühnentiefe gespannt sind, jenen „Sprachtunnel der menschlichen Geheimnisse“ symbolisieren, so spricht die Sprache hier ihre Bedeutung gleich mit.

Eine „apokalyptische Meditation“ nennt der Regisseur, was er mit schwarz-weißen Bühneneffekten wie Nebel, Schieferlandschaften, weißen Scheinwerferkegeln, Ledergewandung, Wasserspielen und Beschneidungsritualen verschiedener Art inszeniert. Die von Blixa Bargeld komponierte Musik tut das Ihre: schrilles Erinnyen- Gezirpe, dumpfe Gongschläge über Sphärensound, Texte mit allerhand Loneliness treiben definitiv den „Fluch der Hölle“ hervor.

„Sie sind ein Irrtum“, sagt einer zu einem etwa in der Mitte des Stücks, „der erste Irrtum, den ich so klar umrissen sehe.“ Der erste ist diese Inszenierung wohl nicht, auch kein besonders klar umrissener, nur ein um so ärgerlicherer, als sie eine Auftragsproduktion des Festivals „X94 – Junge Kunst und Kultur“ der Akademie der Künste Berlin (in Zusammenarbeit mit dem Institut Français) darstellt und als solche sich an die Jugend wendet, an deren Erwartung und Lebensgefühl – nach den eher lebhaften Stimmen der jugendlichen Zuschauerschaft zu schließen – sie wohl ungehört und unerwidert „vorübergedümpelt“ ist. Michaela Ott

Bernard-Marie Koltès: „Dumpfe Stimmen“. Regie: Gert Hof, Musik: Blixa Bargeld. Mit: Uwe Steinbruch, Andrea Solter, Ursula Werner. Heute noch einmal um 20 Uhr