: „Wie ein Stück totes Vieh behandelt“
Der Berliner Innensenator dementiert rassistische Übergriffe der Polizei gegenüber AusländerInnen / Die Erfahrungen eines Strafverteidigers sehen aber ganz anders aus ■ Von Hans-Joachim Ehrig
„Bisherige Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte haben Behauptungen, es gäbe rassistische und kriminelle Übergriffe seitens Berliner Polizeibeamter, in keinem Fall bestätigt“, so die Antwort des Senators für Inneres, Professor Dr. Dieter Heckelmann (CDU), vom 25.2.93 auf die mündliche Anfrage eines Abgeordneten der Fraktion Bündnis 90/Grüne.
Am 7. Januar 1993 erschien in meiner Sprechstunde der sichtlich verstörte Iraner Habib J. mit einem Schreiben des Polizeipräsidenten in Berlin vom 30.12.92. Darin hieß es: „Gegen Sie wird ein Ermittlungsverfahren geführt, das folgende Beschuldigung zum Gegenstand hat: Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Hausfriedensbruch, Körperverletzung“. Als Tatzeit war der 24.12.92 und als Tatort öffentliche Verkehrsmittel sowie die Polizeiwache des Abschnitts 33 genannt. Wohl nur dadurch war Herrn J. bekannt, daß die gegen ihn erhobenen Vorwürfe ein Geschehen betrafen, das er so ganz anders erlebt hatte. Herr J. legte mir als Beweis für die Verletzungen, die erlitten hatte, einen Erste-Hilfe-Schein des Krankenhauses Moabit vom 24.12.92 um 18.30 Uhr, des Universitätsklinikums Rudolf Virchow vom 24.12.92 um 20 Uhr und des gleichen Klinikums vom 25.12.1992 um 15.50 Uhr vor. Außerdem hatte er das Schreiben einer ihm gänzlich unbekannten Frau dabei, die seinen Studentenausweis am „Tatort“ gefunden hatte und ihm mitteilte, daß sie Zeugin eines Übergriffes auf ihn geworden war, „der mich schon ein paar Tage lang beschäftigt hat“. Gleichzeitig bot sie ihre Zeugenaussage an. Nachdem ich die Angaben des Herrn J. durch eine informatorische Befragung der Zeugin bestätigt fand, benannte ich sie gegenüber der Polizei. Bereits am 12.1.93 wurde sie als Zeugin vernommen und gab als erstes zu Protokoll: „Ich denke, daß hier der Falsche verdächtigt wird.“
Erst schlägt ein Busfahrer, dann Polizeibeamte
Am 13.1.93 hatte Herr J. das Geschehen gegenüber der Mitarbeiterin der Ausländerbeauftragten, Ulrike Haupt, geschildert. Ihr Vermerk vom gleichen Tag gibt den Hergang wie folgt wieder:
„Am 24.12.1992 sei er gegen 15.45 Uhr mit dem Bus Nr. 227 in Richtung Moabit/Wiebestraße gefahren. Da er zuvor auf einer Feier etwas Grog zu sich genommen habe, sei er während der Fahrt eingeschlafen. Er sei erst aufgewacht, als der Fahrer des Busses an der Endstation unter Beschimpfungen heftig auf ihn eingeschlagen habe. Zunächst sei er mit ,Scheißpolacke, ich bringe dich um! Warum bis du nicht ausgestiegen?‘ bedacht worden. Dann habe der Busfahrer ihn unter weiteren Schlägen auf Kopf und Körper als ,Saujuden‘ tituliert. Dies könne er sich nur dadurch erklären, daß er – als Student der Iranistik – ein Skript mit dem Titel ,Juden und Kyros der Große‘ sichtbar in der Hand hielt. Er habe versucht, die Schläge abzuwehren, ohne jedoch selbst zu schlagen oder Gewalt anzuwenden. Dem Busfahrer sei dabei die Brille aus dem Gesicht gefallen, so daß er sie aufheben mußte. Erst in diesem Moment habe er auch von ihm abgelassen. Er habe dann benommen auf dem Boden des Busses gelegen und gehört, wie per Funk die Polizei alarmiert worden sei mit der Angabe, Herr J. habe den Fahrer angegriffen und versucht, ihn seiner Brille zu berauben, und er habe sich zur Wehr setzen müssen. Auf Befragen gibt Herr J. an, er habe noch nie im Leben eine Sehhilfe benutzt. Es seien fünf oder sechs Polizeibeamte, darunter eine Frau, am Ort des Geschehens erschienen. Diese hätten sich ausschließlich mit dem Busfahrer verständigt, und zwar außerhalb der Hörweite von Herrn J. Ihn selbst, der sich inzwischen wieder halb aufgerichtet hatte, hätten die Beamten nicht befragt; daher habe er immer wieder gerufen: ,Der Fahrer hat mich geschlagen. Ich wollte zum Zoologischen Garten, aber er hat mich geschlagen.‘ Er sei von den Beamten sehr grob aus dem Bus gezerrt und so brutal in einen Polizeiwagen gestoßen worden, daß er mit dem Kopf heftig aufgeschlagen sei. Während der anschließenden Fahrt hätten die Beamten, die sich mit ihm im hinteren Teil des Fahrzeugs befanden, lediglich zum ihm gesagt: ,Du bist ja besoffen. Warum wischst du dir das Blut nicht ab?‘ Da habe er bemerkt, daß er seine Tasche nicht mehr bei sich gehabt habe.
Angekommen im Revier Perleberger Straße 61b, hätten die Beamten ihn in einen äußerst schmerzhaften Polizeigriff genommen, wobei die durch die Schläge des Busfahrers schon zerrissene Kleidung noch mehr zerfetzt worden sei. Er sei dann in eine Ecke geschoben worden, in der sich ein Beamter befand, der zuvor den Polizeibus gefahren habe und der etwas mitleidig ausgesehen und sich nicht an Beleidigungen und Mißhandlungen beteiligt habe. Mehrmals seien in der Folge Beamte zu ihm gekommen und hätten ihm zugerufen ,Scheißjude‘ (bzw. ,Saujude‘), ,warum gehst du nicht nach Israel?‘ Er habe dann geweint. Nach einer Weile habe er die Polizeibeamten dann darauf hingewiesen, daß er Iraner und kein Jude sei. Daraufhin hätten diese dann, ,Allah, Allah‘ rufend, sich über den Islam und Khomeini lustig gemacht, um ihn zu beleidigen und zu erniedrigen. Es sei ihm eine Blutprobe entnommen worden.
Als er gewagt habe, nach dem Busfahrer zu fragen, der ihn ja schließlich geschlagen habe, habe ein Polizeibeamter mit Dreitagebart ihn mehrfach heftig geohrfeigt. Auf seine Bitte, eine Anzeige entgegenzunehmen, habe man ihm lediglich ein Informationsblatt ausgehändigt; ihm sei nicht klargeworden, ob seine Anzeige entgegengenommen worden sei. Schließlich habe man ihn mit einem Stoß aus dem Polizeibüro auf die Straße befördert, so daß er sich dreimal überschlagen habe, nachdem er auf die Schulter und das Gesicht gestürzt sei. Er habe dann noch einmal geklingelt, um seine Tasche und seine Papiere wiederzubekommen, die, wie er meinte, bei den Polizeibeamten sein müßten. Als ein Beamter gesehen habe, daß er es war, der klingelte, habe sich dieser wieder abgewandt, ohne zu öffnen. In seinem benommenen Zustand habe er einen Passanten nach dem Weg ins nächste Krankenhaus gefragt, sei aber nicht beachtet worden. Er habe dann versucht, vorbeifahrende Autos anzuhalten. Ein Türke habe ihn dann ins Krankenhaus gebracht. Während der Fahrt sei er halb bewußtlos gewesen.“
Abschließend würdigt dieser Vermerk den Vorgang wie folgt:
„Das Vorbringen von Herrn J. in unserem Büro war glaubwürdig, differenziert, schlüssig und genau. Allerdings war ihm eine erhebliche Verängstigung und Verunsicherung anzumerken. Im Gesicht hat er immer noch ein taubes Gefühl und verspürt gelegentlich ein Kribbeln, als ob ihm Wasser über die Haut liefe. Herr J. ist 1988 als Asylsuchender in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Er wurde als politischer Flüchtling anerkannt. Im Iran wurde er während seiner insgesamt dreijährigen Haft vielfach gefoltert, u.a. auch durch Scheinhinrichtungen.“
Die Ausländerbeauftragte stellte Strafantrag
Es war die Berliner Ausländerbeauftragte, Frau Barbara John (CDU), selbst, die aufgrund dieser Schilderung Strafanzeige gegen die Polizeibeamten erhob.
Da sich Herr J. aufgrund seiner Erfahrungen weigerte, nochmals allein eine Polizeidienststelle zu betreten, begleitete ich ihn zu seiner Zeugenvernehmung am 23.2.93.
Nach diesem Vorlauf und der eingangs zitierten Antwort des Innensenators war der Zeitpunkt gekommen, den Fall der Öffentlichkeit bekanntzumachen. Zeitlich koordiniert, erschien am 9.3.93 ein großer Artikel im Tagesspiegel, berichtete im Regionalfernsehen die „Berliner Abendschau“ und bundesweit das ZDF-Magazin „Kennzeichen D“. Mit dem Rücken zur Kamera schilderte die immer noch merkbar erschütterte Zeugin, Herr J. sei von der Polizei „Wie ein Stück Vieh, wie ein totes Stück Vieh“ in den Polizeiwagen geworfen worden.
Die Medien griffen das Thema rassistisch motivierter Übergriffe der Polizei auf Ausländer auf. Für einige Zeit verging kaum ein Tag, an dem nicht von neuen Übergriffen in den verschiedensten Zeitungen berichtet wurde. Diese Medienberichterstattung ermutigte auch Betroffene, weit zurückliegende Ereignisse nunmehr endlich zur Anzeige zu bringen. Der innenpolitische Sprecher der Berliner SPD, Hans-Georg Lorenz, äußerte gegenüber dem Tagesspiegel, daß Übergriffe von Polizisten gegen Ausländer in den vergangenen drei Jahren sprunghaft zugenommen hätten. Frankfurter Rundschau, Süddeutsche Zeitung und Der Spiegel griffen die schlimmen Vorwürfe gegen die Berliner Polizei auf. Dabei standen die Vorwürfe des Iraners J. vom 24.12.92 im Mittelpunkt – einem Tag im übrigen, der nicht nur der Geburtstag des christlichen Religionsstifters ist, sondern der in Berlin mit Lichterketten gegen rassistische Übergriffe begangen wurde.
Die Anzahl der Übergriffe der Polizei steigt
Das Archiv des „Instituts für Bürgerrechte & Öffentliche Sicherheit e.V.“ in Berlin, das für die Jahre 1990–92 ganze sieben Presseveröffentlichungen zum fraglichen Thema aufweist, hat für 1993 über sechzig Artikel gesammelt. „SOS Rassismus“ legte Anfang 1994 eine Dokumentation „Menschenrechtsverletzungen in Deutschland, Übergriffe von Polizei und Behörden gegen Ausländerinnen und Ausländer“ vor. Darin werden mit Stand vom Dezember 1993 für das Jahr 1989 zwei, für das Jahr 1990 einer und für das Jahr 1991 vier Übergriffe dokumentiert. Für 1992 sind es dann 24 Fälle und bis Dezember 1993 bereits 33 Übergriffe, die dokumentiert werden. Auch amnesty international hat im Juni 1993 Vorwürfe über Mißhandlungen an ausländischen Staatsbürgern in Deutschland dokumentiert und im Februar 1994 weitere Vorwürfe aus der Zeit von Juni bis Dezember 1993 vorgelegt. Man darf wohl davon ausgehen, daß diese Zahlen das objektive Anwachsen derartiger Übergriffe widerspiegeln. Gleichzeitig wird offenbar das Anzeigeverhalten der Betroffenen und deren subjektive Einschätzung der Erfolgsaussicht einer Anzeige durch die Aufmerksamkeit der Medien beeinflußt. „Kennzeichen D“ hat am 22.9.93 neue Vorwürfe erhoben und Betroffene zu Wort kommen lassen. Der Berliner Innensenator indes verweigerte eine Stellungnahme und sah erneut mit Verweis auf noch laufende Ermittlungen „keinen weiteren Handlungsbedarf“. Inzwischen sind auch im Jahr 1994 der Ausländerbeauftragten weitere Übergriffe „glaubhaft berichtet“ worden, so daß dort Ende Februar 1994 laufende Ermittlungen in 17 Berliner Fällen bekannt sind.
Auch die Justiz steht auf dem Prüfstand
Im Falle J. „liefen“ die Ermittlungen jedoch nicht, sie schleppten sich langsam dahin. Ende Oktober 1993 fand endlich eine Gegenüberstellung in den Räumlichkeiten des Polizeiabschnitts 33 statt. Herrn J. wurde also zugemutet, selbst an den Ort seiner Mißhandlungen zurückzukehren und den Beschuldigten ein „Heimspiel“ zu überlassen. Die Begründung: Der Dienstbetrieb solle so wenig wie möglich gestört werden. Die Gegenüberstellung fand zum Schichtwechsel statt. Zwei Dienstschichten uniformierter Polizeibeamter drängten sich feixend in einem Raum ihrer eigenen Dienststelle. Herr J. wurde von mir begleitet. Die ermittelnde Staatsanwältin war ebenfalls anwesend. Trotz der ihm anzumerkenden starken psychischen Belastung konnte Herr J. Angaben machen, die im Februar 1994 endlich zur Anklageerhebung nicht nur gegen den Busfahrer, sondern auch gegen beteiligte Polizeibeamte geführt haben.
Daß eine Anklageerhebung lediglich den Weg zu einer gerichtlichen Untersuchung des Vorfalles ebnet und keineswegs mit der Bestrafung der beschuldigten Polizeibeamten gleichzusetzen ist, ergibt sich nicht nur aus der Strafprozeßordnung, sondern auch aus der Statistik: 1992 wurden 591 Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte geführt. Zirka 97 Prozent davon wurden eingestellt, nur 19 Anklagen wurden erhoben. Diese endeten alle mit Freispruch.
Hat der Innensenator also doch recht? Ist die Berliner Polizei mit ca. 28.000 Beamten die einzige Bevölkerungsgruppe, in der Rassismus keine Chance hat? Oder wird die gesteigerte öffentliche Sensibilität – mit einiger Verspätung – ihren Niederschlag auch in den Gerichtsurteilen finden? Auch die Justiz steht auf dem Prüfstand.
Im Falle einer türkischen Familie, die am 2.11.1991 (sic!) auf offener Straße in Berlin-Kreuzberg geprügelt und verletzt wurde, fand Ende Februar 1994 endlich die Verhandlung in erster Instanz gegen vier Polizeibeamte statt. Obwohl der Staatsanwalt für alle vier Freispruch beantragte, wurden zwei Beamte wegen Körperverletzung im Amt zu Geldstrafen verurteilt.
Ob dieses Urteil auch in der Berufung Bestand hat, bleibt skeptisch abzuwarten.
Ber Beitrag wurde aus der Zeitschrift „Bürgerrechte und Polizei/ CILIP 47 (1/94)“ übernommen.
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