Operation mißlungen, Ärztin tot

Eine Abtreibung und ein Selbstmord in der Pilgerstadt Tschenstochau erregen in Polen die Gemüter und haben politische Folgen  ■  Aus Tschenstochau Klaus Bachmann

Gleich am Ortseingang von Tschenstochau weist eine Tafel darauf hin, daß der Besucher nun in die Partnerstadt von Lourdes und Loreto einfährt. Die Straßen sind nach Johannes Paul II., nach Heiligen und Nationalhelden benannt. Verläßt man das Rathaus von Tschenstochau, liegt linker Hand die „Allee der Allerheiligsten Jungfrau Maria“, die unmittelbar zum Jasna-Gora-Kloster führt. An jeder Straßenlaterne hängt ein leistungsstarker Lautsprecher, aus dem höchst weltliche Reklame und fetzige US-amerikanische Popmusik dröhnen.

Im Sommer ziehen hier bis zu acht Millionen Pilger mit Gesang und Plakaten an Tausenden von Tschenstochauern vorbei, die sich mit Papstplaketten, Postkarten, Heiligenbildchen oder auch nur mit Würstchen und Mineralwasser ein kräftiges Zubrot verdienen. Was Außenstehenden als katholische Frömmigkeit erscheint, ist zum großen Teil nur Schlitzohrigkeit. So will eine italienische Consultingfirma mit Zustimmung des überwiegend konservativ-katholischen Stadtrats die Stadt für rund 500 Millionen Mark zu einem „Pilgerzentrum“ umrüsten. Das Geld soll aus Fonds der Europäischen Union kommen. Auf Wunsch der italienischen Gechäftsspezialisten sollen die Kirchenoberen die Ablaßprozeduren so gestalten, daß die Pilger statt weniger Stunden ganze Tage in der Stadt verbringen. Sonst lohnt sich nämlich der Bau neuer Hotels und Restaurants nicht. Das kleine Einmaleins der Marktwirtschaft beherrscht man in der Händler- und Handwerkerstadt genauso gut wie die Mönche auf dem Berg die Geschichten über Wunder ihrer Schwarzen Madonna. Doch seit einigen Wochen ist es mit der stillen Harmonie aus katholischem Image und diskreter Geldscheffelei vorbei. Denn Tschenstochau wurde zum Schauplatz eines menschlichen Dramas, das seither das ganze Land bewegt.

Der Friedhof des Tschenstochauer Stadtteils Kule dehnt sich hinter einer gigantischen Kirche aus, deren unsägliche Betonkonstruktion selbst die tristen Wohnblocks der Gegend als abwechslungsreich erscheinen läßt. Auf dem Grab von Zofia Nowinska* liegen frische Blumengebinde, obwohl die Beerdigung bereits mehrere Wochen zurückliegt. Zwei katholische Priester nahmen die Bestattung vor, die zwei Stunden dauerte und an der sich mehrere hundert Trauergäste beteiligten, obwohl es damals in Strömen regnete und sogar Hagelkörner fielen. Ein kirchliches Begräbnis für eine Frau, der man alles anlasten könnte, was nach gängiger Lehrmeinung ein solches ausschließt: sie hat eine illegale Abtreibung begangen, dabei eine andere Frau schwer verletzt und in Lebensgefahr gebracht, und sie hat zwei Selbstmordversuche unternommen, den zweiten erfolgreich. Seither sind die letzten Tage im Leben der Tschenstochauer Ärztin Zofia Nowinska zum Thema heftiger Diskussionen in ganz Polen geworden, ähnlich der Geschichte jener minderjährigen Irin, der die Behörden in Dublin die Ausreise nach Großbritannien zur Abtreibung verwehrten.

Der stellvertretende Kreisstaatsanwalt für Tschenstochau- Stadt, Pawel Andrecki, führt das Ermittlungsverfahren Nowinska. Er macht nicht den Eindruck, als sei er über über dieses Los besonders glücklich. Am 18. März sei er von der Direktion der Klinik schriftlich über das Verbrechen in Kenntnis gesetzt worden, erläutert er. Daraufhin habe er wohl oder übel die Ermittlungen aufnehmen müssen.

Sechs Tage zuvor, an einem arbeitsfreien Samstag, hatte die Gynäkologin Zofia Nowinska eine Frau mit ihrem Privatwagen in die Klinik gebracht. Die Patientin, deren Namen die Behörden geheimhalten, wäre beinahe verblutet. Als die Ärzte ihr in einer Notoperation den Unterleib öffneten, entdeckten sie die Überreste eines über fünf Monate alten Fötus. Nach polnischem Recht macht sich jeder strafbar, der einer Schwangeren bei einer illegalen Abtreibung behilflich ist, sei es auch nur durch Zureden. Jede Abtreibung in einer Privatpraxis ist illegal. Die betroffene Frau hingegen macht sich nicht strafbar. Bei Verdacht auf illegale Abtreibung sind die Behörden zu verständigen.

„Natürlich hätte sich der Fall vertuschen lassen“, gibt Staatsanwalt Andrecki zu. Die Ärzte hätten sich auf ihre Schweigepflicht berufen können. Ärztliche Schweigepflicht versus gesetzliche Meldepflicht ist ein Widerspruch, mit dem sich bisher kein Gericht beschäftigt hat. „Zum Glück bin ich nur Staatsanwalt, ich muß dieses Dilemma nicht entscheiden“, seufzt Andrecki. Auch er weiß, was allen bekannt ist: Illegale Abtreibungen stehen bei vielen Gynäkologen weiter auf der Tagesordnung – legal, illegal oder in der Grauzone. Doch als Staatsanwalt wird Andrecki nur tätig, wenn jemand offiziell und schriftlich Anzeige erstattet.

Antoni Jablonski ist Stationschef der Gynäkologie- und Geburtshilfeabteilung des Krankenhauses, in dem Zofia Nowinska arbeitete, bevor sie ihre eigene Praxis eröffnete. Er genießt den Ruf eines sehr liberalen Arztes und erklärten Gegners des neuen Abtreibungsrechts. Ja, er erinnere sich an jene Nacht, als Zofia Nowinska mit ihrer Patientin ankam. Er war selbst bei der Notoperation dabei. Der Patientin gehe es gut, sie sei Mutter von zwei Kindern und habe sich von der Operation gut erholt. Im übrigen habe das alles mit dem neuen Abtreibungsrecht nichts zu tun: „Auch das liberalste Abtreibungsrecht verbietet einen Eingriff im sechsten Monat. Ich verstehe überhaupt nicht, warum sie so etwas gemacht hat.“ Jeder andere Arzt hätte künstlich eine Frühgeburt ausgelöst, was viel unkomplizierter sei und den Vorteil habe, daß man es hinterher praktisch nicht nachweisen könne. „Statt dessen hat sie den Fötus regelrecht auseinandergerissen und dabei noch die Gebärmutterwand zerfetzt. Bei der Operation mußten wir sie komplett entfernen.“

Das geschah an einem Samstag. Am Montag darauf, noch bevor die Klinik die Behörden verständigt hatte, machte sich Zofia Nowinska ein heißes Bad und schnitt sich die Pulsadern auf. Einer ihrer Söhne fand sie. Als die Ambulanz sie in die Klinik brachte, war sie bereits dem Tode nahe. Sie hatte sich noch nicht erholt, als zwei Staatsanwälte ihre Praxis durchsuchten. Fünf Tage später, kurz vor dem ersten Verhör, erhängte sie sich nachts im Keller ihres Hauses. Diesmal kam der Rettungswagen zu spät. „Sie hätte höchstens eine Bewährungsstrafe von zwei Jahren und zwei bis drei Jahre Berufsverbot riskiert“, meint Pawel Andrecki. „Kein Gericht hätte sie als Nichtvorbestrafte hinter Gitter gebracht. Und sie hatte Familie.“

Auch ihre Kollegen, Freunde und Patienten verstehen die Motive für den Selbstmord nicht. Der Fall ist Stadtgespräch. Zofia Nowinska galt als freundliche, sympathische und kompetente Ärztin. Ihr Begräbnis war eines der größten Ereignisse der letzten Zeit.

Die örtlichen „Lebensschützer“ reagierten nicht auf den Fall. Erzbischof Stanislaw Nowak versprach jedoch den Bau eines Hauses für alleinerziehende Mütter. Priester Andrzej Sobota von der St.-Jakobs-Pfarrei im Zentrum der Stadt übernahm das Begräbnis der mehrfachen Todsünderin. In seiner Predigt wies er darauf hin, daß es weder ihm noch sonst jemandem zustehe, über die Taten der Toten zu richten. Die Tschenstochauer Filiale der überparteilichen landesweiten „Vereinigung für Rechte und Freiheiten“ forderte mit großen Plakaten zum Beitritt und „für die Liberalisierung des Abtreibungsrechts“ sowie eine „höhere Besteuerung von Priestern“ auf. Viele Bürger erfuhren erst dadurch von der Existenz des Vereins.

Die Staatsanwaltschaft verwandelte das Ermittlungsverfahren gegen die Ärztin nach ihrem Freitod in eines gegen Unbekannt. Denn, so erklärt Staatsanwalt Andrecki mit juristischer Akribie, zu klären sei, ob nicht etwa der Lebensgefährte von Frau Nowinskas Patientin diese zu der illegalen Abtreibung angestiftet habe. So will es das Gesetz, während die Patientin laut Strafprozeßordnung selbstverständlich über ihr nahestehende Personen Aussageverweigerungsrecht genießt und davon bisher auch Gebrauch gemacht hat. „Bleibt die Tatsache, daß Frau Nowinska aus medizinischen und technischen Gründen allein nicht imstande war, bei ihrer Patientin den Eingriff vorzunehmen, und sie anschließend ins Krankenhaus brachte.“ Beihilfe zur illegalen Abtreibung und schweren Körperverletzung werden mit Gefängnis bestraft. Auch das will das Gesetz.

Diesem Gesetz hätte allerdings nicht widersprochen, wenn Zofia Nowinskas Patientin in einem der örtlichen Reisebüros eine jener Reisen gebucht hätte, die im Kleinanzeigenteil der Lokalpresse als „Ausflüge nach Tschechien mit voller gynäkologischer Betreuung“ angepriesen werden. Ryszard Rotaub, Lokalreporter in Tschenstochau: „Das ist allgemein üblich, und alle wissen es – spätestens nach einer Razzia der Tschechen im Krankenhaus von Cesky Tesin, bei der drei Polinnen auf der gynäkologischen Abteilung entdeckt wurden.“

1991 wurden in Polen insgesamt 11.600 Abtreibungen registriert. Nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes waren es 1993 noch ganze 244. Drastisch angestiegen ist dagegen die Zahl der Fehlgeburten. Staatsanwalt Andrecki hat sich kundig gemacht: „Nahezu problemlos und hinterläßt praktisch keine Spuren.“ In Tschenstochau ist der Fall Nowinska der erste und einzige seiner Art. Offiziell gibt es in der Stadt keine illegalen Abtreibungen, selbst wenn alle wissen, daß das nicht stimmt.

Darüber spricht man nicht, doch für die Gynäkologen ist das Gesetz ein gefundenes Fressen. Umgerechnet über 1.000 Mark kostet ein illegaler Eingriff, das Durchschnittseinkommen liegt bei knapp 400 Mark. Polens Frauen finden sich im Paragraphendickicht jedoch ganz gut zurecht. Ihnen droht ohnehin keine Strafe, und die Solidarität der Ärzte hat bisher gehalten. Trotz aller Lippenbekenntnisse über die Unantastbarkeit des ungeborenen Lebens, trotz des Eids des Hippokrates und der katholischen Grundüberzeugungen der Ärzte ist keine Anzeigenflut über die Staatsanwaltschaften hereingebrochen. Selbst die „Lebensschützer“ behaupten nicht, daß die Zahl der Abtreibungen drastisch zurückgegangen sei. Landesweit laufen gerade 30 Ermittlungsverfahren in Abtreibungssachen, von denen einige bereits eingestellt wurden.

Wie so viele unbequeme Vorschriften, wurde auch dieses Gesetz ignoriert, bis Zofia Nowinska sich das Leben nahm. Ihr Freitod war nicht ein politisches Zeichen, kein Fanal gegen ein unmenschliches Gesetz und die allgemeine Doppelzüngigkeit. Doch er wirkt, als wäre das so. Schon ist in Warschau wieder eine Gesetzesänderung in Vorbereitung – diesmal soll Abtreibung erleichtert werden. Manchmal kommt man eben auch aufgrund falscher Schlüsse zum richtigen Ergebnis.

* Name von der Red. geändert