Schwarzmeer-Stürme im Wasserglas

■ Wie aus ukrainisch-russischen Mißverständnissen Krim-Krisen werden können

Warschau/Kiew (taz) – Als sich die Präsidenten und Premierminister der Ukraine und Rußlands im letzten Herbst im Weinort Massandra auf der Krim trafen, unterzeichneten sie zwei Protokolle, in denen sie übereinkamen, daß die Ukraine zum Ausgleich ihrer Schulden bei Rußland ihre Hälfte der Schwarzmeerflotte und ihre Atomraketen an Moskau abtritt. So sieht man es in Moskau. Nach einem Sturm der Entrüstung darüber in Kiew erklärte Präsident Krawtschuk dagegen nur noch, die Protokolle enthielten die Bereitschaft der Ukraine, über einen solchen Tausch zu verhandeln. Seither sorgen die unterschiedlichen Interpretationen von Massandra immer wieder für Konflikte um die Schwarzmeerflotte. Sie brechen mit Vorliebe dann aus, wenn die Ukraine gerade einmal wieder von einer innenpolitischen Krise geschüttelt wird. So auch jetzt – während der Wahlen.

Der derzeitige Propagandakrieg um die Schwarzmeerflotte begann eigentlich schon am 3.April, als bekannt wurde, daß der Oberkommandierende der Schwarzmeerflotte, der russische Admiral Eduard Baltin, mit einer Schußverletzung ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Um diese Zeit hielt sich der Präsident der Krim, Juri Meschkow, auf Zypern auf. Sein Amt verbreitete die Nachricht, das ukrainische Verteidigungsministerium konzentriere Sondereinsatztruppen auf der zur Ukraine gehörenden, aber mehrheitlich von Russen bewohnten Halbinsel und mehrere hohe Vertreter ukrainischer Schlüsselministerien hielten sich auf der Krim auf. Präsident Krawtschuk wolle den Ausnahmezustand über die Insel verhängen. Zugleich protestierten in Sewastopol prorussische Gruppen gegen die angebliche Erhöhung des ukrainischen Militärkontingents in der Stadt von 18.000 auf 60.000 Soldaten, und als Meschkow in Zypern starten wollte, verweigerte ihm die türkische Luftüberwachung den Rückflug. In Abwesenheit Meschkows ernannte der ukrainische Präsident Krawtschuk einen Statthalter für die Krim. Alles sah danach aus, als wolle Kiew die Krim besetzen und Meschkow wegputschen.

Die politische Fieberkurve fiel drastisch, als sich herausstellte, daß sich Admiral Baltin mit einem defekten Revolver selbst in den Fuß geschossen hatte, daß zwei der drei hohen ukrainischen Beamten auf der Krim bloß Baltin im Krankenhaus besuchen wollten und daß die Türkei Meschkow den Abflug verwehrte, weil er vergessen hatte, einen Flugkorridor für die Heimkehr zu bestellen. Die horrende Erhöhung des ukrainischen Militärkontingents schrumpfte auf dreißig Soldaten zusammen, und statt den Ausnahmezustand zu verhängen, dachte Präsident Krawtschuk in Kiew laut darüber nach, ob man die Krim zu einer „Sonderwirtschaftszone“ machen sollte, was den dortigen Autonomisten sehr entgegenkäme.

Die Medien hatten sich noch nicht beruhigt, da kam die nächste Hiobsbotschaft. Ukrainische Kommandotruppen, hieß es Anfang dieser Woche, hätten die Reparaturwerft der Schwarzmeerflotte in Odessa mit Gewalt besetzt, mehrere russische Matrosen festgenommen und andere beschossen. Ukrainische Patrouillenboote hätten ein Navigationsboot verfolgt, russische Einheiten seien ihm zu Hilfe gekommen. Der Ausbruch eines russisch-ukrainischen Krimkriegs schien unmittelbar bevorzustehen.

Nur in Kiew sah man alles etwas gelassener. Dort erklärten die beiden höchstrangigen Militärs von Odessa vor der Presse, es habe weder eine Schießerei noch eine Schlägerei gegeben, niemand sei verletzt, und die insgesamt drei festgenommenen Offiziere seien erstens ukrainische Staatsbürger, und keine russischen, und zweitens schon wieder auf freiem Fuß. Der ukrainische Grenzschutz habe lediglich die Besatzung des Navigators „Tscheleken“ daran gehindert, wertvolle Navigationsgeräte ohne Papiere von Odessa nach Sewastopol zu schaffen.

Die Grenzer hatten den Verdacht, den Geräten stehe das gleiche Schicksal bevor wie der „Pilgij“, einem Schwarzmeerflottenschiff, das fünf Jahre lang zur Reparatur in einer Ostseewerft lag. Als es vor einer Woche auslief, wurde es der russischen Ostseeflotte eingegliedert. Sollte die Schwarzmeerflotte tatsächlich einmal aufgeteilt werden, gehört also die „Pilgij“ nicht mehr dazu. So schaffen russische Militärs Fakten.

Für gestern wurde nun der Besuch des Oberkommandierenden der russischen Flotte, Feliks Gromow, und des Jelzin-Sonderboten Jurij Dubinin in Kiew angekündigt, die mit Krawtschuk über die Zukunft der Schwarzmeerflotte verhandeln sollen. Der Besuch sei schon vorher geplant gewesen, hieß es dazu in Kiew, aber die Ereignisse in Odessa hätten ihn beschleunigt. Klaus Bachmann