Inzest mit Tequila und Lasso

Bester Milieurealismus, der aber seltsam unbeteiligt läßt: Jungregisseur Elmar Goerden inszenierte „Liebestoll“ von Sam Shephard in der Kreuzberger Probebühne der Schaubühne  ■ Von Petra Kohse

Neu-Mexiko liegt dicht hinterm Schlesischen Tor. Schon die Zuschauer auf der ersten der fünf Stuhlreihen können in der Probebühne der Schaubühne die Füße in den Wüstensand stellen. Weit hinten steht auf Pfählen ein Motel. Grüne Neonleuchten werfen von dort aus ihr ungesundes Licht auf die Gegend. In der Ecke steht eine Muttergottes, die Musikbox ist nicht weit, und leise rieselt der Sand. Die Längsseite des Motels ist aufgerissen. Man blickt in ein Zimmer wie in eine Puppenstube. Ein kleiner Tisch und zwei Küchenstühle sind zu sehen, durch die Glastür blinkt eine Leuchtreklame, an der Wand prangt ein Rinderskelettkopf, im Fernseher läuft „Raumschiff Enterprise“, und auf dem zerwühlten Bett sitzt die noch zerwühltere May.

Genauso stellt man sich eine amerikanische Frau vor, die aus dem gemeinsamen Wohnwagen floh, als ihr Liebster gerade mal wieder mit dem Pferdetransporter on the road war und bei einer anderen einen Stopp einlegte. Und da kommt er auch schon zur Türe herein, um sie zurückzuholen. Ein Bild von einem Cowboy mit Namen Eddie. Schlaksig, ungehobelt machohaft, und es dauert nicht lange, da zieht er auch das Lasso hervor. May schmeißt ihn raus, er geht, sie bricht weinend zusammen, er kommt wieder, sie fällt ihm in die Arme und tritt ihm in die Eier. Wenn das kein Naturalismus ist. Aber draußen in der Wüste ist noch jemand. Ein alter Mann, beider Vater, der sie zeugte mit verschiedenen Frauen in verschiedenen Leben. Der Traum von der amerikanischen Familie ist ein Haufen schmutziger Wäsche, zeigt Sam Shephard in seinem Einakter „Liebestoll“ von 1983. Die Halbgeschwister begegnen sich, verlieben sich und kommen nicht mehr voneinander los. Eddie ist wie sein Vater, geht und kommt und geht. May wartet. Zwar nicht mehr mit offenen Armen wie einst ihre Mutter, aber sie wartet.

Den familiären Hintergrund der Beziehung erfährt man, als ein Verehrer von May auftaucht, den sie sich während Eddies Abwesenheit zugelegt hat. Ihm beginnt der eifersüchtige und tequilatrunkene Eddie davon zu erzählen. Im schönsten Milieurealismus hat Elmar Goerden (bisher Regieassistent im Hause) dies alles inszeniert. Warum, wird nur in Teilen einsichtig.

Hans-Werner Meyer ist optisch ein Lucky-Luke-Typ. Jungenhaft charmant und verzweifelt gewalttätig. „Du warst ja nicht da“, schreit er in Vaters Richtung und tritt mit dem Fuß gegen die Wand, wie er das ohnehin oft tut. Ein Macho wird hier entschuldet: Er ist ja erblich vorbelastet. Karoline Eichhorn spielt die May als Alkoholikerin, wiewohl sie im Text sagt, sie sei trocken. Fahrige Bewegungen, Haare im Gesicht, die Stimme belegt, die Zunge schwer. Mehr Erinnerung an Leidenschaft, Gewohnheit der Liebe, als im Hier und Jetzt empfunden. Rainer Philippi bringt mit seinem in Türkistönen karierten und hellbraun gepaspeltem Anzug samt Texanerstrohhut einen Anflug von Komik auf die Bühne. Überkorrekt und mit erstauntem Babyface ist sein Martin der Situation natürlich überhaupt nicht gewachsen. Ein Tropfen Penatenöl in der tragisch schwelenden Liebesglut.

Daß einen das alles ziemlich ungerührt läßt, liegt vielleicht daran, daß sich Goerden zu sehr darauf konzentrierte, Shephards komplizierte Inzest-Geschichte zu erzählen statt mit kleinen Gesten und Zwischentönen das eigentliche Liebesdrama, das Nicht-mit-dir- und-nicht-ohne-dich herauszuarbeiten. Viel Geschrei und Geheule, Lassowerfen und Stühleumkippen und immer wieder AFN- Potpouries aus dem Off. Man beobachtet unbehelligt einen Ausnahmefall aus dem Wilden Westen – und der ist sehr weit weg.

„Liebestoll“ von Sam Shephard. Regie: Elmar Goerden; Bühne: Irmgard Berner, mit Karoline Eichhorn, Hans-Werner Meyer, Rainer Philippi, Franz Josef Steffens. Wieder am 16. und und 17.4., 20 Uhr, Cuvrystraße 5, Kreuzberg.