Traum-Öffentlichkeit

■ Für das kleine Ladenmädchen in dir: Jean Amery über Film

Hier schreibt einer über den Film, der weiß, daß die Kino-Erfahrung nicht rein ist und daß es deshalb auch überhaupt keinen Zweck hat, ihr mit einer reinen Ästhetik beikommen zu wollen. Einer, der weiß, daß das Kino nicht versteht, wer nie mindestens zwei Stunden lang im Dunkeln in ein Gesicht in Großaufnahme verliebt gewesen ist. Kurz, hier schreibt einer, der sich nicht darüber hinwegtäuscht, daß wir im Dunkeln vor der Leinwand alle kleine Ladenmädchen sind.

Jean Améry, dessen „Arbeiten zum Film“ jetzt gesammelt vorliegen, war kein Filmkritiker und hat auch keiner sein wollen. Er war einer, wie sein Herausgeber Joachim Kalka treffend schreibt, der „nicht so sehr Filme gesehen hat, sondern ins Kino gegangen ist“. Der Unterschied ist alles andere als Sophisterei. Nur wer sich zu seiner Leidenschaft ein naives Verhältnis bewahrt hat, wird jene Frage stellen, über die Améry bekannte, sich „seit Jahr und Tag“ den Kopf zu zerbrechen: „die Frage nämlich, warum die Leute eigentlich noch ins Theater gehen. [...] Alles, was man heutzutage vermittels (allemals vergleichsweise dürftiger) optischer, technisch-akustisch aufgehöhter, choreographischer Tricks auf dem Theater zu bewerkstelligen sucht, nimmt neben dem Film sich auf paradoxe Weise pueril und senil zugleich aus.“

Améry schreibt, der Film sei eine „naive Kunstform“. Wer auch nur irgendeinen seiner Essays gelesen hat, weiß, daß es damit etwas Besonderes auf sich haben muß, daß „Naivität“ hier jedenfalls nichts mit edler Einfalt und Ahnungslosigkeit zu tun haben kann. Es heißt auch bezeichnenderweise: „Ein Rückgriff auf Naivität ist die einzige Möglichkeit, ihm [dem Film, J.L.] gerecht zu werden.“ Der Kinogeher Améry hat nicht nur die filmtheoretischen Klassiker von Balász über Kracauer bis Sadoul gelesen; er hat auch als Frankreichkenner den Aufbruch der Nouvelle Vague und deren deutsche Aufnahme in Zeitschriften wie Film und Filmkritik während der sechziger Jahre verfolgt.

Die „Naivität“ von Jean Amérys Filmkolumnen ist daher eine höchst voraussetzungsvolle Haltung, weit entfernt von dem Dilettantismus, der sich angesichts der Schauwerte des Kinos „mal ganz dumm“ stellt. Sie reflektiert vielmehr den Wunsch, sich das Kino als Ort einer starken Erfahrung zu bewahren, als Ort einer Traum-Öffentlichkeit, „in der es so etwas wie lebendige gemeinsame Reflexion über Gefühle (und Geschichte; Geschichte der Gefühle)“ (J. Kalka) geben möge. Deshalb, nicht aus Anti-Intellektualismus, gießt Améry seinen Spott über die verblasene Filmkritik der sechziger Jahre aus, die ihm seinen geliebten Hitchcock als „Metaphysiker der Angst“ glaubte aufschwatzen zu müssen und ihm den geschätzten Godard mit den gleichen steilen Phrasen anpries, die schon ein paar Jahre zuvor für den Nouveau Roman geworben hatten.

Améry schreibt über das Kino, als gäbe es noch jenen Gesamtzusammenhang, in dem Klatsch, Starrummel, ästhetische Radikalität, große Gefühle, Kitsch und Politik sich traumhaft verwirren; als wartete all das immer noch darauf, von einem scharfsinnigen Amateur auseinandergelegt zu werden. Darin liegt in jenen späten sechziger und siebziger Jahren, als die Kolumnen entstehen, schon etwas Unzeitgemäßes, aber Améry ist ein viel zu trockener Geist, um ins Nostalgische abzugleiten.

Im Band sind neben Kritiken und ausgreifenden Essays drei Porträts – von Marlene Dietrich, Jean-Paul Belmondo und Romy Schneider – enthalten, alle drei von der Position des Liebhabers aus geschrieben und dementsprechend angenehm parteiisch: Der ersteren rechnet Améry nicht nur ihre filmischen Triumphe an, sondern auch – anders als die deutsche Öffentlichkeit, die sie bei ihrer Tournee 1960 auf skandalöse Weise empfing –, daß die „von der Dietrich erfrischten GIs es uns allen möglich machten, als mehr oder weniger freie Menschen zu sprechen“.

Die Auseinandersetzung mit dem geliebten Material ergibt manche Fragen, auf die auch die Filmtheoretiker, soweit ich sehe, noch keine befriedigenden Antworten gefunden haben. Améry spricht „von der eigentümlichen Verwischung von Kunst und Kitsch“, „die uns am Ende dahin bringt, daß wir den ästhetischen Begriff Kitsch völlig aufzugeben gezwungen sind“: „Muß nicht vor dem Cinéma die ganze Frage nach Kunst und Kitsch neu gestellt werden?“

Er stellt sie sich selber in zwei der hier versammelten Beiträge, die beispielhaft zeigen, wie sein kritischer Zugriff funktioniert: in „Auf den Sade gekommen“ nimmt er sich eines Films von Alain Robbe-Grillet an („Eden et après“, 1971), ein Beispiel des modischen Gebrauchs von sadistischen Gewaltdarstellungen, der um die „revolutionäre“ Begründung nicht verlegen ist: „Vergewaltigung, Mord, Brand“, so Robbe-Grillet ganz im Stil der Zeit, „sind die metaphorischen Akte, welche die Neger, die Proletarier in Lumpen [...] von ihren Komplexen befreien werden.“ Von solchem Polit-Kitsch hat sich Améry nicht bestechen lassen, ohne gleich in den Tonfall der Leinwandsäuberer zu verfallen. Er nennt die gezeigten Exzesse ein „gräßliches Spiel mit dem zum Objekt gewordenen Menschen“ und Robbe-Grillet einen „frivolen Snob des Blutes“.

Schwieriger liegen die Dinge im Falle der Kritik an Jean-Luc Godard, die Améry 1968, auf dem Höhepunkt von dessen Ruhm, formulierte. Sie ist, bei aller Schärfe, dem Gestus der „rettenden Kritik“ verpflichtet; der Kritiker verteidigt eine „glänzende filmschöpferische Begabung“ gegen die Freunde ihrer jüngsten Mißgeschicke („La Chinoise“, 1968). Das Talent Godard, das Opas Kino so bravourös witzig entkam, ist dabei, sich in der Schotterlandschaft aus Zitaten, die mit „journalistischem Flair für die Zeitungsaktualität“ zusammengesucht wurden, zu verlieren. Améry nennt Godard einen – trotz aller ostentativen Radikalität – „desengagierten jungen Herrn“. Godards Spiel mit dem Film hält er für den „Protest eines jungen Mannes aus gutem Hause gegen das angestammte Milieu“, eines „name- droppers“, der sich – angefeuert von ehrgeizigen Filmologen – auf den besten Weg in die Belanglosigkeit begeben hat. Womit Améry leider für lange Zeit recht behalten sollte. Jörg Lau

Jean Améry: „Cinéma. Arbeiten zum Film“. Hrsg. und mit einem Nachwort von Joachim Kalka. Klett-Cotta Verlag, 1994. 119 Seiten, geb., 22 DM