Mit Haut und Haaren

■ Moderne Vampire: Wissenschaftler wollen die Erbsubstanz bedrohter Völker erforschen

Gentechnik - ein Begriff, der in aller Munde ist. Jetzt sollen auch noch die indigenen Völker mit dieser Speerspitze der westlichen Wissenschaft konfrontiert werden. Wissenschaftler planen, im Rahmen des Human Genome Diversity Projects (HGDP) die Erbinformationen indigener Völker zu untersuchen und zu konservieren, damit diese auch nach dem Aussterben der Völker der Forschung zur Verfügung stehen. Das in Altona ansässige „Institut für Ökologie und Aktions-Ethnologie“ (infoe) ist eine von vielen Organisationen, die schwerwiegende ethische und politische Bedenken gegen dieses Vorhaben äußern. Wir veröffentlichen Auszüge aus dem im Mai erscheinenden Schwerpunktheft "Genforschung und Biodiversität" des infoemagazins (Bezug: Infoe, Gaußstr. 14, 22765 Hamburg).

Das vor drei Jahren initiierte Human Genome Diversity Project (HGDP) soll der Erforschung der genetischen Vielfalt und des Ursprungs der Menschheit dienen. Besonderes Augenmerk gilt dabei den in ihrer Existenz bedrohten indigenen Völkern. Denn nur diese - so die Projekt-initiatoren - zeigen als isolierte Gemeinschaften ein "ursprüngliches, prähistorisches" genetisches Bild der Weltbevölkerung. Deshalb sollen sowohl Lebenden, Verstorbenen und Föten als auch Placenten Zellproben entnommen werden, um Erbkrankheiten, genetisch bedingte Allergieanfälligkeiten und Nahrungsmittelunverträglichkeiten zu erforschen.

Nach Meinung der Wissenschaftler, die im HGDP organisiert sind, drängt die Zeit, denn viele indigene Völker sind entweder vom Aussterben bedroht oder vermischen sich immer stärker mit anderen Bevölkerungsgruppen. Geplant ist, ca. 700 indigenen Gemeinschaften von je 50 bis 100 Menschen Haut-, Haar- und Blutproben zu entnehmen. Genforscher wollen diese Zellproben dann so transformieren, daß sie auf Dauer "immortalisiert", d. h. haltbar sind. Die Organisatoren des Vorhabens erhoffen sich, die entnommenen Zellproben vor Ort in Laboren bearbeiten zu können, um so auch den Ländern der "Dritten Welt" einen Technologietransfer zu bescheren. Projektkritiker hingegen befürchten, daß die Labore durch Entwicklungshilfegelder finanziert werden und somit Mittel für lebenswichtige Projekte verlorengehen. Die vervielfältigten Zellproben sollen später in US-amerikanischen und europäischen Genbanken eingelagert werden, damit sie der Forschung weltweit zur Verfügung stehen. Es bedarf nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wer die Profite dieses "gemeinsamen Erbes der ganzen Welt" beanspruchen wird.

Daß Genforschung für Wissenschaftler und Pharmaindustrie lukrativ ist, verdeutlicht das vor 15 Jahren gestartete Human Genome Project (HGP), der große Bruder des Human Genome Diversity Projects. Für drei Milliarden Dollar wird hier das menschliche Genom (die Gesamtheit aller Gene) entschlüsselt und kartiert. Sind das wichtigste an den Menschen tatsächlich ihre Gene?

Die Forscher des HGDP haben sich auch mit ethischen, politischen und menschenrechtlichen Aspekten des Projektes auseinandergesetzt: Nach ihren Vorstellungen sollen die Proben von Anthropologen, Ethnologen oder Ärzten entnommen werden, die mit der jeweiligen Gruppe vertraut sind. Es besteht sogar der Anspruch, die "Spender" der Zellproben über das Projekt und dessen Ziele zu informieren, um ihre Einwilligung, ihren "informed consent" zu erhalten. Doch schon allein Inhalt und Begrifflichkeit der Genforschung sind schwer auf die Sprachen und Kulturen indigener Völker übertragbar:

– Wie ist der Begriff Gentechnik zu übersetzen?

– Wie wollen Forscher die "Unsterblichkeitsmachung" von menschlichen Zellen erklären? Viele Indigene haben eine gänzlich andere Weltanschauung. Sie verstehen das irdische Dasein als einen Abschnitt der Dreiteilung des Lebens in Geburt, Erdenweg und Tod.

– Wie um Erlaubnis bitten, Zellproben von Toten zu entnehmen? Viele indigene Gruppen betrachten ihre Verstorbenen nicht als Tote, sondern als überirdische Wesen, die den irdischen Lauf der Dinge beeinflussen.

– Wie den Betroffenen die Suche nach dem Ursprung der Menschheit verständlich machen? Für viele indigene Völker liegt der Ursprung der Menschen in einem allgegenwärtigen Ursprungsmythos.

Kann in Anbetracht dessen die Rede von einer informierten Einwilligung sein? Nicht einmal die offiziellen Vertreter indigener Völker sind über das Vorhaben des HGDP informiert, geschweige denn um Erlaubnis gefragt worden. Daher muß die Absicht, gentechnische Untersuchungen an indigenen Völkern durchzuführen, ohne deren Glaubenssysteme und Wertvorstellungen zu berücksichtigen, als ethnozentrische Vorgehensweise verurteilt werden.

Wem diese sogenannte Grundlagenforschung tatsächlich nützt und welche Folgen sie haben kann, zeigt folgendes Beispiel: Schon 1987 entnahmen panamesische Ärzte einer Guaymi-Indianerin angeblich für Heilzwecke Blut-, Haar- und Hautproben. In diesen Zellen fand der Amerikaner Michael Lairmore einen seltenen Virus, der dem HIV-Virus gleicht. In den USA ist diese "Erfindung" bereits beim Patentamt registriert worden (prinzipiell können nur Erfindungen patentiert werden). Ein Antrag beim Europäischen Patentamt in München, die "Erfindung" auch dort patentieren zu lassen, wurde im Dezember 1993 wegen zu starker öffentlicher Kritik abgelehnt. Daher soll das Patentieren von indigenen Genen den Mitarbeitern des HGDP verboten werden. Für Wissenschaftler und Pharmafirmen wird ein derartiges Verbot jedoch nicht tragisch sein, offenbaren selbst HGDP-Organisatoren. Denn die Patentierung von genetischen Teilinformationen ist erlaubt.

Damit auch die indigenen Völker von dem Human Genome Diversity Project profitieren, so die Überlegungen der Organisatoren, sollen sie am Gewinn beteiligt werden. Anfänglich wurde in Erwägung gezogen, einen Teil der Profite in einen UNESCO-Fonds einzuzahlen. Es wird allerdings befürchtet, daß die Regierungen der jeweiligen Länder, die zumeist ihre indigenen Völker unterdrücken, das Geld vereinnahmen könnten. Eine Lösung für diese Probleme wurde auf der letzten Arbeitstagung des HGDP im September 1993 auf Sardinien nicht gefunden.

Indigene Gruppen könnten, so argumentieren die Organisatoren, auch einen gesundheitlichen Nutzen aus dem Projekt ziehen, z. B. aus der Identifizierung genetisch bedingter Krankheiten oder Allergieanfälligkeiten. Was geschieht aber, wenn genetisch nachgewiesen wird, daß indigene Völker Nord- und Südamerikas asiatischer Abstammung sind? Werden dann ihre Landrechtsforderungen null und nichtig?

Ein aktuelles Beispiel macht deutlich, wie schnell die Forschungsergebnisse für politische, nationalistische und rassistische Zwecke mißbraucht werden können. Laut offizieller Mitteilung der chinesischen Regierung haben neue genetische Gutachten die enge Verwandtschaft von Tibetern und Nordchinesen bewiesen. Diese Tatsache wird jetzt von der chinesischen Regierung als Vorwand benutzt, um die kulturelle, politische und soziale Selbständigkeit der tibetischen Bevölkerung in der sogenannten "Autonomen Region Xizang" und den autonomen tibetischen Bezirken im Westen der Volksrepublik weiter zu untergraben.

Folglich stehen indigene Völker dem Human Genome Diversity Project sehr kritisch gegenüber. Nach 500 Jahren Genozid und Ethnozid gegen Ureinwohner kann ein Human Genome Diversity Project nicht der richtige Weg sein, sich mit ihnen zu befassen. Daß ihre biologische und kulturelle Vielfalt überhaupt heute noch existiert, verdanken sie gerade ihrem erbitterten Widerstand gegen Eingriffe von außen, wie Kolonisation und unangemessene Entwicklungsprogramme. Ist es nicht widersinnig, Millionen von Dollar für die Erfassung ihrer genetischen Vielfalt auszugeben, während die indigenen Völker um politische und kulturelle Anerkennung sowie um ihre Selbstbestimmung kämpfen müssen?