Zu viele Rollen, lieber Goethe

■ Das neue Spektakel des Blaumeier-Ateliers, diesmal mitten in der Kirche: „Fast Faust“, keine Tragödie, aber wie!

Das Theater, wie wir's kennen, übt unvermeidlich einen gewissen Terror der Konsistenz aus. Immer haben die da oben schon alles unter sich abgemacht, wenn wir Platz nehmen, und wir müssen uns damit bescheiden, daß es schon einen Sinn haben wird. Umso wohltätiger, daß es das Blaumeier-Atelier gibt. Da geht ja selbst dem Doktor Faust das Bühnendurcheinander oftmals über die Begriffe, wiewohl wir in ihm den Schlaumeier sui generis erkennen, und Wolfgang Bötsch läßt ihn prachtvoll herumwallen, ausgestattet mit der amüsierten Skeptizität, die ganz seine eigene ist.

Auch die andern Gestalten hatten es durchaus nicht nötig, ihre Rollen unentwegt zu beherrschen. Die dicke Gretel (Paula Kleine) krallte sich den Faust recht umstandlos, um ihm was Anständiges zu kochen; der eine Engel rechts oben mochte sich diesmal nicht im geringsten einmischen, er zeigte aber einen Abend lang ein Lächeln von herzzerreißender Milde, während unten so manches Teufelchen tanzte, als ginge gerade die Übermacht seiner Vorgeschichte in Flammen auf.

Es war also wieder einmal wie immer, wenn das „Bl aumeier-Atelier für Kunst und Psychiatrie“ sein Theater macht; diesmal hat man sich den „Faust“ gewählt, und am Mittwoch war das Spektakel erstmals in Bremen zu sehen. Die ganze Kirche Unser Lieben Frauen angefüllt mit Engeln, Teufeln und schließlich den blaumeiertypischen Maskenwesen, vom wulstigen Gretelkind über den herzensguten Mond bis zur riesenhaften Epiphanie eines Monstrums, welches plötzlich einmal vom Seitenschiff herniederdräute. Auch mit Gesang wurde nicht gespart, ein Orchester machte kunstreich angeschrägte Musik, und wenn es der Ernst der Lage erforderte, brauste von hinten her machtvoll die Orgel. Und die Bühne, ein enormes Kasperltheater von fünf mal zehn Metern, hatte Platz für die unerforschlichsten Dinge, von der steinernen Traurigkeit der Kulissenschieber ganz zu schweigen.

Das Publikum war begeistert und nahm die wenigen länglichen Stellen nicht krumm. Diese aber sind wahrscheinlich der Preis für die Wahl eines solchen Stücks. Es war sichtlich nicht einfach, diesen allseits durchgeformten Fauststoff ins Blaumeierische zu übertragen. Am Ende blieb immer noch zu viel wohldefiniertes Geschehen übrig, und man mußte die Leute hie und da ein bißchen hineinzwängen.

Es funktioniert aber nur andersherum, und die Blaumeierkunst lebt schon großteils davon, daß allesamt, die Verrückten inklusive, die Rollen kriegen, in denen sie die besten sind. Das ist eine harte Erfinderarbeit, und Goethe kann da wenig ausrichten. Manfred Dworschak

Noch heute und morgen um je 20 Uhr in der Kirche Unser Lieben Frauen, Eintritt 25 (15) Mark