„Noch einen Tag, dann geht es auch hier los“

Im südruandischen Butare rechnen die Bewohner stündlich damit, daß in ihrer Stadt das Morden beginnt  ■ Aus Butare Bettina Gaus

Die Straßen von Butare sind menschenleer, die Geschäfte geschlossen. Aber kein Schuß ist zu hören. Hier ist bislang niemand ermordet worden. Noch ist die Kleinstadt im Süden Ruandas, etwa 50 Kilometer vor der Grenze zu Burundi, von Greueln verschont geblieben, wie sie sich seit Tagen in der Hauptstadt Kigali ereignen. Aber kaum jemand glaubt, daß es noch lange so ruhig bleiben wird. „Höchstens drei Tage, dann geht es auch hier los“, hatte Herman Unglaub, Mitarbeiter eines Landwirtschaftsprojektes der deutschen Organisation GTZ, noch am Nachmittag gesagt. Abends meint er: „Das geht schneller. Vielleicht noch einen Tag.“

Jetzt verlassen auch die Europäer das Land, die den Aufrufen zur Evakuierung bisher nicht gefolgt waren. Im Hof des Ibis-Hotels, einer gepflegten kleinen Herberge in Butare, werden am Morgen fünf Autos beladen: wenig Gepäck, viele Passagiere. „Nehmen Sie mich mit!“ fleht ein Ruander den belgischen Leiter des Hotels, Michel Campion, an. „Wie denn?“ fragt der erschöpft. „Auf dem Dach“, sagt der Ruander.

Campion hat soeben seine Angestellten bezahlt. Sie behalten die Schlüssel und werden den Betrieb aufrechterhalten, solange es eben geht. Mit ausländischen Gästen ist kaum zu rechnen. Mitarbeiter von UNO-Hilfsorganisationen, die hier Dauerquartier bezogen hatten, sind schon vor drei Tagen evakuiert worden. Campion hat Angst um seine Angestellten. Marie Nyanawumuntu, Zimmermädchen, auch heute im strahlend weißen, gebügelten Kittel, lächelt sanft und beruhigend: „Vielleicht werden wir ja überleben.“ Vielleicht.

Es sind vor allem Ordensschwestern und -brüder, die sich jetzt hier zur Abfahrt eingefunden haben. Sie nutzen die vielleicht letzte Gelegenheit zur Flucht. Benzin ist nur noch mit Beziehungen zu organisieren. Die meisten derjenigen, die über ein fahrbereites Auto verfügen, haben die Stadt längst verlassen.

Butare war Ausgangsort für die Versorgung Hunderttausender burundischer Flüchtlinge gewesen, die sich nach dem gescheiterten Militärputsch in Burundi im Oktoger letzten Jahres und vor den anschließenden Massakern nach Ruanda gerettet hatten. Wie es jetzt in den Lagern aussieht, weiß niemand. Bekannt ist lediglich, daß die beiden größten Lager von fast allen Flüchtlingen verlassen worden sind. „Mein Chef hat bei der Evakuierung alle Autos mitgenommen“, sagt Jean-Marc Urimubenshi, ruandischer Mitarbeiter des UNO-Flüchtlingshilfswerkes UNHCR, „ich kann nicht mehr fliehen.“

Die Flüchtlinge haben ihre letzte Nahrungsmittelration vor Evakuierung der UN-Organisationen erhalten. Viele von ihnen sollen über Waffen verfügen: Schon seit Monaten gingen Gerüchte um, denen zufolge die Regierung des jetzt getöteten ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana Gewehre und Handgranaten in die Lager geschmuggelt habe, um Widerstandsaktionen gegen die burundische Armee vorzubereiten.

„Tausende von wütenden, hungrigen Flüchtlingen marschieren auf Butare zu“, erzählt abends in der Bar des Ibis-Hotels einer der in der Stadt stationierten UNO- Soldaten. Er gehört zu den Truppen, die eigentlich nach Ruanda gekommen waren, um die Einhaltung eines Friedensabkommens zu überwachen, das die Regierung Habyarimana mit der Rebellenbewegung RPF (Patriotische Front Ruandas) im letzten August nach dreijährigem Bürgerkrieg geschlossen hatte. Der Vertrag ist jetzt Makulatur – und die UN-Soldaten haben nun Angst. Sie sind nicht für einen Kampf ausgerüstet und wohnen in einem kleinen, kaum zu sichernden Hotel unmittelbar an der Hauptstraße. „Vielleicht werden wir ja jetzt abgezogen. Schön wär's“, meint einer von ihnen. Trügerische Hoffnung: vorläufig werden sie bleiben, hat der UN-Sicherheitsrat beschlossen.

Die Nachricht vom Marsch der Flüchtlinge auf Butare schreckt alle auf, die in der Bar des Ibis-Hotels sitzen, in der ein funktionierendes Telefon, eine reichhaltige Speisekarte, eine gutgefüllte Bar und eine freundliche Bedienung inmitten des Wahnsinns einen grotesken Anschein von Normalität erwecken. „Welche Zimmernummer haben Sie? Ich setze das Essen auf die Rechnung“, sagt der Kellner. Welche Geschichten, die an diesem Abend in der Bar erzählt werden, stimmen wirklich, welche sind Gerüchte? „40 Kilometer sollen die Flüchtlinge noch weg sein, hat mir ein ruandischer Mitarbeiter erzählt“, sagt Herman Unglaub. Ein schwerer Regenguß prasselt hernieder – ein kleiner Aufschub, denn er erschwert Fußgängern das Fortkommen. Niemand weiß, wie viele es wirklich sind, die sich auf die Stadt zubewegen. Fest steht lediglich: nach Burundi sind bisher nur wenige Flüchtlinge zurückgekehrt.

Die Geschicke von Burundi und Ruanda waren in der Vergangenheit stets eng miteinander verknüpft. In den beiden ehemals belgischen Kolonien hatte jahrhundertelang die feudalistisch organisierte Minderheit der Tutsi über die überwiegend Ackerbau betreibende Hutu-Mehrheit geherrscht. In Burundi hatten die Tutsi die Macht auch nach der Unabhängigkeit behalten und dominieren die Armee. Im Sommer letzten Jahres war in freien Wahlen erstmals ein Hutu-Präsident an die Spitze des Staates gelangt, nur wenige Monate später jedoch bei dem Umsturzversuch des Militärs ermordet worden. Sein Nachfolger Cyprien Nyatamira kam in der letzten Woche gemeinsam mit Ruandas Präsident Habyarimana ums Leben.

Ruanda dagegen war seit der Unabhängigkeit stets von Hutu- Präsidenten regiert worden. Das Mißtrauen der Ethnien gegeneinander, genährt durch eine lange Geschichte von Massakern und Diskriminierungen, ist traditionell tief verankert. In beiden Ländern liegt es im Interesse der jeweils privilegierten Schicht, daß die alte Feindschaft fortbesteht: die Rivalität der verschiedenen Bevölkerungsgruppen sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich in den letzten Jahren über ethnische Grenzen hinweg durchaus auch Allianzen in politischen Sachthemen und der Forderung nach Demokratisierung der Gesellschaft gebildet haben. Intellektuelle und Menschenrechtler beider Ethnien haben in Ruanda und Burundi in ihrem Bemühen um Reformen eng zusammengearbeitet. Ob diese Bündnisse nach den Ereignissen der letzten Tage Bestand haben werden, bleibt abzuwarten.

Wie schon im letzten Jahr in Burundi, so ist auch jetzt in Ruanda entlang der ethnischen Linien gemordet worden. Haß, Wut und Frustration entladen sich gerade in jenen Teilen der Bevölkerung, die – ob Hutu oder Tutsi – stets einen harten Kampf ums Überleben geführt haben und selten davon profitierten, daß Vertreter ihrer eigenen Bevölkerungsgruppe an der Macht waren. Die ausgemergelten Gesichter und die schwieligen Hände geflüchteter Bauern erzählen von jahrelanger Schwerstarbeit, aber sie geben keine Hinweise auf ethnische Zugehörigkeit.

In Burundi war es vor allem die Landbevölkerung, die unter Plünderungen und Massakern zu leiden hatte. Aber auch in Ruanda blieb das Grauen nicht auf die Hauptstadt Kigali beschränkt. Herman Unglaub, der seit acht Jahren in Ruanda lebt, war den ersten Aufforderungen für die Evakuierung nicht gefolgt. Der Kfz-Meister hatte gehofft, den Bürgerkrieg auf seiner abgelegenen Station im Südwesten des Landes, 60 Kilometer entfernt von Butare, überstehen zu können.

Drei Tage lang beobachtete Herman Unglaub, wie von den Hügeln der Umgebung Rauch aufstieg – mordende und brandschatzende Banden legten ganze Gemeinden in Schutt und Asche. Drei Tage lang hörte Unglaub von Massakern an der Landbevölkerung, die immer näher kamen: „Einige lokale Mitarbeiter wurden mit Frauen und Kindern umgebracht.“ Schließlich mußte er aufgeben: „Heute früh um elf waren sie einen Kilometer vom Projekt entfernt. Der Unterpräfekt sagte, er könne mich nicht mehr schützen. Deshalb gehe ich. Ich wollte nicht gehen.“

Im Landesinneren tötete – anders als in Kigali – nicht die Armee: Bauersfamilien, die zum Minderheitsvolk der Tutsi gehörten, wurden von Angehörigen der Hutu- Mehrheit mit Macheten in Stücke gehackt. Aber nicht alle Bindungen hat der Krieg zerstören können: „Ich habe meinen Angestellten Reis und Geld dagelassen und mich um ein Versteck für sie bemüht“, erzählte ein belgischer Professor der Universität von Butare nach der Evakuierung in Kenias Hauptstadt Nairobi. „Der eine ist ein Hutu, der andere ein Tutsi. Sie kommen sehr gut miteinander aus. Vielleicht können sie sich schützen.“ Nach längerem Schweigen fügt er hinzu: „Ich begreife es nicht. Da gibt es Leute, die nehmen bei der Evakuierung ihre Hunde mit – und die Menschen, die Menschen müssen wir zurücklassen.“

Im Auto auf dem Weg von Butare zur Grenze spricht fast niemand. Die Straße führt in sanften Kurven über saftiggrüne Hügel, an deren Abhängen Bananenstauden und Kaffee wachsen. Noch arbeiten hier Bauersfrauen auf ihren Feldern, noch spielen hier Kinder vor unzerstörten kleinen Häusern.

Kein Fahrzeug kommt dem Konvoi entgegen. An der Grenze sitzen etwa 150 zerlumpte, erschöpfte Frauen und Kinder und einige Männer: Flüchtlinge aus Burundi, die nach Hause zurückkehren – in ein Land, in dem der Friede und damit ihr Leben auch noch nicht gesichert sind. Der Grenzbeamte stempelt die Pässe der ausreisenden Ausländer. Sie sind der Gefahr entronnen. „Sechs Jahre habe ich in Butare in einem Projekt für Straßenkinder gearbeitet“, sagt der Schweizer Ordensbruder Otmar Würth. „Wir haben wirklich etwas aufgebaut. Jetzt kann das alles in einer einzigen Nacht futsch sein.“