■ Interview mit SPD-Bundesgeschäftsführer Verheugen
: „Unsere Wähler wollen Sicherheit“

taz: Herr Verheugen, können Sie sich erklären, warum sich die SPD nicht mehr streitet?

Günter Verheugen: Es gibt kein Machtvakuum mehr an der Spitze der Partei. Und es gibt die disziplinierende Wirkung des Wahljahres. Gerade in Deutschland ist ja das Ideal der Geschlossenheit einer Partei stark wirksam. Die Wähler wollen keine unterschiedlichen Angebote, sie wollen wissen: Was will die Partei? Was bekomme ich, wenn ich sie wähle? Streit wirkt da in der Tat nicht positiv. Dennoch sind inhaltliche Auseinandersetzungen unvermeidlich, und niemand will sie abwürgen. Doch in den Formen, in denen man sie austrägt, sollte man schon Rücksicht nehmen auf die Rahmenbedingungen des Wahljahres. Sicher spielt es für die Geschlossenheit der SPD auch eine Rolle, daß jeder weiß: Der Spitzenkandidat muß von allen getragen werden. Wer in dieser Situation querschießt, nimmt das Risiko auf sich, daß das Unternehmen scheitert.

Aber man muß diese Einsichten in der SPD nicht mehr repressiv vermitteln?

Überhaupt nicht. Ich tue in der Sache nicht mehr, als auf die zentralen Regeln für das Wahljahr zu verweisen: die Oppositionspartei muß in der Offensive bleiben, sie muß sich auf die Themen konzenrieren, die für die Menschen wirklich wichtig sind, und sie darf sich nicht öffentlich streiten.

Jetzt gibt es aber doch Streit. Nach der Vorstellung des Regierungsprogramms fürchten die Ökologen, auch in der Partei, die SPD verabschiede sich rechtzeitig vor dem möglichen Wahlsieg von den Reformvorstellungen aus ihrer Oppositionsära.

Vorweg, es gibt bislang einen Diskussionsentwurf zum Regierungsprogramm. Die Debatte über den Entwurf läuft gerade erst an, und es wird da voraussichtlich auch noch eine Reihe von Änderungen geben.

Warum stehen in diesem Entwurf zur ökologischen Steuerreform, dem umweltpolitischen Schlüsselprojekt, nur vage Absichtserklärungen? Warum kommt eine Mineralölsteuererhöhung erst gar nicht mehr vor?

Ich finde das, was da zur ökologischen Steuerreform steht, überhaupt nicht vage. Ich glaube allerdings nicht, daß es sinnvoll wäre, in einem Regierungsprogramm möglichst detaillierte Steuersätze und Termine zu nennen. Das wäre schlicht unseriös, weil diese Festsetzungen von verschiedenen Faktoren abhängig sind, die wir jetzt noch gar nicht absehen können. Was man im Bereich Ökosteuern, die natürlich auch das Auto betreffen, machen kann, ist auch für die SPD abhängig von der Automobilkonjunktur oder von der Lage auf dem Arbeitsmarkt. Präzise läßt sich das nicht prognostizieren, und deshalb gehören auch die konkreten Festlegungen nicht ins Programm. Was wir allerdings vorgeben können, ist die politische Linie, und die heißt ökologische Steuerreform.

Inklusive Mineralölsteuererhöhung?

Jeder, der sich mit Ökologie beschäftigt, weiß, was ökologische Steuerreform bedeutet: Der Material- und Energieverbrauch wird belastet, um auf diese Weise sparsameren Verbrauch zu stimulieren, und die Arbeitseinkommen werden entlastet. Wenn ich von Energieverbrauch spreche, steckt der Mineralölverbrauch natürlich mit drin.

Die Ökologen in der Bundestagsfraktion sind nach der Lektüre des Entwurfs ziemlich unsicher geworden, ob die SPD das wirklich durchsetzen will.

Ich habe daran keinen Zweifel. Dafür steht nicht zuletzt Oskar Lafontaine, der ja diese Position in der SPD sehr massiv vertreten und durchgesetzt hat. Was ich allerdings strikt ablehne, wäre, zum jetzigen Zeitpunkt eine Instrumentendebatte führen zu wollen. Für ein Regierungsprogramm reicht es aus zu sagen, was das politische Projekt ist. Die Linie ökologische Steuerreform ist völlig klar.

Aber nicht so klar, daß man jetzt schon sagen könnte, ob die SPD den Benzinverbrauch steuerlich mehr belasten wird oder nicht.

Wenn man jetzt sagt, Bestandteil der ökologischen Steuerreform ist eine schrittweise Erhöhung der Mineralölsteuer, dann passiert exakt dasselbe wie im Bundestagswahlkampf 1990. Damals stand das im Programm. Aber es gab keine Debatte um ökologischen Wandel und ökologisches Umsteuern, sondern nur die bekannte Steuererhöhungsdebatte. Diese Vorlage werden wir der Union nicht liefern. Ich weise darauf hin, daß die Koalition die Mineralölsteuer in den letzten Jahren massiv angehoben hat und eine weitere Erhöhung plant.

Die SPD will sich nicht festlegen. Aber wie kommt im Wahlkampf eine Reformdebatte zustande...

...wenn man sie nicht an einigen symbolischen Fragen zuspitzt. Das ist exakt das Problem, an dem ich rumkaue.

Der Wahlkampf der SPD ist von der Rücksichtnahme auf das Sicherheitsbedürfnis der BürgerInnen dominiert.

Ich glaube, daß sich eine Volkspartei, wenn sie die Wahlen gewinnen will, nicht viel anders verhalten kann. Das unterscheidet uns von den Grünen oder der FDP. Ich sage ganz offen, das Thema Sicherheit steht im Vordergrund unserer Wahlkampfphilosophie. Die Leute erwarten von diesem Staat, daß er ihnen Sicherheit bietet, materielle Sicherheit, Sicherheit der Arbeitsplätze, soziale Sicherheit, innere und äußere Sicherheit.

Aber dieses Bedürfnis schränkt dann den Handlungsspielraum für Reformen ein.

Wieso? Sicherheit erreichen Sie durch Veränderung, nicht durch die Parole ,weiter so wie bisher‘. Das Ziel Sicherheit ist doch kein konservatives Ziel.

Wenn es überstark bedient wird, gerät es leicht dazu, die Menschen in Sicherheit zu wiegen. Wollen sie dann auch noch Reformen?

Man kann den Leuten schon sagen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, sind auch harte Anstrengungen, Opfer und Veränderungen nötig. Wer dauerhafte Sicherheit in diesem Land garantieren will, der muß heute die notwendigen Veränderungen in Gang setzen. Sicherheit in der modernen Industriegesellschaft ist nicht durch Erstarrung erreichbar, sondern durch Veränderungsbereitschaft.

Glaubt die SPD das Sicherheitsbedürfnis in besonderem Maße bedienen zu müssen?

Ja. Unsere Wählerschaft ist in hohem Maße von den wirtschaftlichen Strukturveränderungen betroffen. Das Bedürfnis nach einer einigermaßen sicheren Lebensperspektive ist unter den SPD-Anhängern, die in abhängiger Beschäftigung und nicht in leitenden Positionen sind, viel stärker ausgeprägt als bei der Wählerschaft anderer Parteien. Ich glaube auch, daß einige unserer Probleme der letzten Jahre auch damit zu tun hatten, daß wir dieses Bedürfnis der Menschen bei der Auswahl unserer Themen nicht ernst genug genommen haben. Deshalb konzentrieren wir uns auf Arbeit, soziale Sicherheit, gerechte Lastenverteilung.

Kann es nicht sein, daß die angenommene „Belastungsgrenze“ zu einer fixen Idee wird, aus der heraus die Angst der Parteien, die Bürger zu verschrecken, immer weiter wächst?

Das ist schwer zu beantworten. Wir sollten uns allerdings bei der Frage, wie belastbar die Bürger sind, nicht leicht täuschen lassen. Zum Beispiel lesen wir in allen Umfragen, die große Mehrheit sei bereit, für den Umweltschutz Opfer zu bringen. Das ist eine abstrakte Frage, und die Antwort entspricht der sozialen und moralischen Norm. Doch wenn sich die Frage konkret stellt, wenn die Einbußen wirklich abverlangt werden, dann wird aus der abstrakten Opferbereitschaft schnell eine massive Ablehnung. Am deutlichsten ist das – um noch einmal darauf zurückzukommen – bei der Mineralölsteuer. Das ist ein absolutes Killerthema.

Aber das wird es auch dann noch sein, wenn die SPD nach der Wahl darangeht, das durchsetzen zu wollen.

Wenn man das in Angriff nimmt, wird man klugerweise die Erlöse nicht etwa zur Deckung von Haushaltslöchern verwenden, sondern den Verwendungszweck angeben und zugleich sagen, wo wir die Bürger entlasten. Wenn man regiert, macht man keine Ankündigungen, sondern ein Gesetzgebungspaket, in dem beides drin ist. Belastung und Entlastung, eine Umschichtung, bei der die Steuer- und Abgabenquote insgesamt nicht erhöht wird.

Will die SPD im Wahljahr überhaupt noch einmal versuchen, Stimmung für solche Reformen zu machen?

Wir werden im Wahlkampf sicher noch stärker als bisher Reform und Erneuerung in den Vordergrund rücken. Man muß da jetzt nicht nervös werden. Wir haben noch sechs Monate bis zum Wahltermin. Man muß da schließlich steigerungsfähig sein.

Die Reformoffensive der SPD kommt also noch?

Meiner Meinung nach muß sie kommen, selbstverständlich.

Und Sie sind hoffnungsvoll, daß sich die Gesellschaft anstecken läßt?

Die Wahlergebnisse der letzten Jahre jedenfalls zeigen, daß es Mehrheiten gibt für die tendenziell veränderungsbereiten, fortschrittsfreudigen Parteien. Wobei – das gebe ich zu – schwer zu unterscheiden ist, ob die Leute wirklich Veränderung wollen oder ob sie einfach mit dem, was ihnen bisher geboten wurde, so unzufrieden sind, daß ihnen alles andere lieber ist, als das, was sie jetzt haben. Interview: Matthias Geis