Müll ist ein kulturelles Problem

■ Wer sich heimisch und häuslich in seinem Kiez fühlt, verdreckt seine Umwelt weniger, glaubt der Diplom-Ökonom Rainer Lucas zum Verhältnis der Menschen zum Abfall

Rainer Lucas (45) leitet das Regionalbüro des Instituts für Ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) in Nordrhein-Westfalen. 1992 erarbeitete das IÖW eine Studie über Stadtentwicklung und Müllentsorgung.

taz: Wenn die Stadt zu verdrecken droht, greifen manche Verwaltungen gerne auf die sehr griffige Formel zurück: „Unsere Stadt muß sauberer werden“.

Rainer Lucas: Die Stadt ist per se ein Ort des Konsums. Die Sauberkeit allein kann nicht das Kriterium sein. Es muß darum gehen, die Stoffkreisläufe zu reduzieren und weit über die derzeitigen Regelungen des „Grünen Punkts“ hinauszugehen. Einwegflaschen müßten verboten, die Hersteller von Verpackungen zur Rücknahme verpflichtet werden.

Wird der öffentliche Raum zunehmend als Müllkippe benutzt?

Es geht offensichtlich in diese Richtung. Insgesamt stehen die Kommunen aufgrund der knappen Kassen unter einem erheblichen Rationalisierungsdruck. Serviceleistungen, wie die turnusmäßige Sperrmüllabfuhr, wurden vielerorts zurückgenommen. Dabei hat sich das Müllvolumen in diesem Bereich keineswegs verringert.

Ist der Umgang mit Müll vom sozialen Status abhängig?

Das läßt sich eindeutig feststellen, kann aber nicht allein auf Einkommen reduziert werden. So decken sich nicht nur die sozial Schwachen bei Billiganbietern en gros mit Wegwerfprodukten ein. Auch die gut verdienenden Singlehaushalte neigen zu Einwegverpackungen.

Woran definiert sich der Umgang des Einzelnen mit seiner Umgebung, seinem Kiez?

Generell läßt sich das an folgenden Faktoren festmachen: Häuslichkeit, Bindung an den Stadtteil, Kommunikation mit der Hausgemeinschaft. Umso seßhafter die Menschen sind, desto ausgeprägter ist ihr Sozialverhalten gegenüber der Umwelt.

In der Regel ist außerdem die gesamte Informationspolitik auf den deutschen Mittelstand ausgerichtet, sowohl in der Sprache als auch in der Aufmachung. Bestimmte Unterschichten werden nicht erreicht. Müll ist zudem auch ein kulturelles Problem. Man kann nicht einfach die sogenannten Maßstäbe deutscher Sauberkeit und Reinlichkeit anlegen. Da müssen andere Wege gegangen werden, die den Hintergrund der verschiedenen Nationalitäten, unter anderem auch den der Religion, berücksichtigen.

Häufig hat man den Eindruck, die Container werden zu Ersatzmüllkippen.

Die Wertstoffseparierung ist zunächst ein lobenswerter Schritt. Leider entwickeln sich fast 50 Prozent der Stellplätze mit der Zeit zu mehr oder weniger kleinen Müllkippen. Hinzu kommt, daß viele Menschen ihre soziale Aggression abreagieren, in dem sie ganz bewußt etwa Glas zertrümmern und in Papiertonnen schmeißen. Letztlich stellt sich die Frage: Wer fühlt sich für die Container verantwortlich. Ein Vorschlag wäre, Kindergärten, Schulen, Altenheimen, Clubs Patenschaften zu übertragen. Dafür könnten sich die Kommunen dann mit Gegenleistungen wie dem kostenlosen Besuch von Theatern oder Schwimmbädern revanchieren. Müll wäre so wieder eine soziale Angelegenheit. In der früheren DDR gab es ja das SERO-System, das die Rückgabe von Abfall mit einem kleinen Entgelt belohnte. Auch wenn es manchmal nur symbolischer Art war, wurde doch für den Einzelnen ein Verhältnis von Aufwand und Nutzen hergestellt.

Ist die Zunahme des Mülls auch ein Zeichen für das Auseinanderdriften einer Gesellschaft?

Wir haben das Beispiel amerikanischer oder Dritte-Welt-Großstädte, in denen in manchen Stadtteilen der Abfall direkt aus dem Fenster auf die Straße oder den Hof geworfen wird und keine reguläre Müllabfuhr mehr existiert. Wenn wir den Weg der sozialen Polarisierung weitergehen, könnten sich auch bei uns eines Tages ähnliche Verhältnisse einstellen. Interview: Severin Weiland