„Eine Tageszeitung ist immer reaktionär“

Der dornenreiche Weg von der Gemeinschaft verschworener Genossen zur ordentlichen Genossenschaft  ■ Von Thomas Schmid

Genosse Karl Marx hatte keinen Zweifel. In einer Zeitungsredaktion, so meinte der große deutsche Philosoph Mitte letzten Jahrhunderts, müsse notwendig eine Diktatur herrschen. Vermutlich sagte er das nicht ganz uninteressiert. Immerhin war er damals Herausgeber der Neuen Rheinischen Zeitung. Vielleicht träumten die Setzer, Korrektoren oder Reporter des Blattes von einer betrieblichen Selbstverwaltung, wie sie den Frühsozialisten ihrer Zeit vorschwebte. Doch ihre Meinung war wohl nicht gefragt.

Über hundert Jahre später machte sich eine Gruppe hochmotivierter Leute, unter ihnen viele erklärte Marxisten, daran, den Gegenbeweis zu des Meisters These anzutreten. „Wir werden soweit wie möglich versuchen, im Alltag der Zeitungsherstellung unsere Interessen an repressionsfreien Arbeits- und Lebenszusammenhängen durchzusetzen“, verkündeten sie im April 1978 in ihrem „Prospekt Tageszeitung“. Ein Jahr danach wurde es ernst. Am 17. April 1979 erschien die erste taz – und von da an taztäglich.

Eine Redakteurin kam schon früh zu einer grundsätzlichen Erkenntnis. „Eine Tageszeitung ist objektiv reaktionär“, schrieb sie verzweifelt in einem internen Papier. In gewisser Hinsicht hatte sie natürlich recht. Denn schon bald zeigte sich, daß der Zwang des täglichen Erscheinens dem Bedürfnis nach demokratischer Entscheidung über die Inhalte der Zeitung entgegenstand, daß die Gesetze des kapitalistischen Marktes, auf dem sich die taz ja verkaufen mußte, eine Aktualität einforderten, die notfalls keine langen Diskussionen duldete. Die Kollegin fand die Zeitung objektiv reaktionär – nicht wegen ihres Inhalts, sondern wegen der Bedingungen, unter denen sie hergestellt wurde.

Um das zu verstehen, muß man sich ins Milieu der Alternativbewegung der 70er Jahre zurückversetzen. Von der 68er Bewegung hatte diese zwar den radikaldemokratischen Impuls aufgenommen, sich aber von deren Hoffnung auf eine umfassende Revolutionierung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch politische Arbeit oder gar militärischen Kampf verabschiedet. Nun galt es, in den Nischen der bestehenden Gesellschaft Alternativen zu entwickeln, die man dieser als Modell einer künftigen, besseren Welt entgegenhalten konnte. Vielen taz-Machern der ersten Stunde war denn die alternative Produktionsweise wichtiger als das alternative Produkt, war das „Projekt“, wie der Arbeits- und Lebenszusammenhang genannt wurde, wichtiger als die Zeitung.

Alternative Produktionsweise in einem selbstverwalteten Betrieb bedeutete zunächst dreierlei: so wenig Arbeitsteilung wie nötig; Basisdemokratie und kollektive Entscheidungen statt Hierarchie; gleicher Lohn für alle, unabhängig von Qualifikation und Leistung.

Arbeitsteilung. Natürlich gab es sie von Anfang an – trotz aller heißen Debatten über die schon vom jungen Marx postulierte Aufhebung der Trennung von Kopf- und Handarbeit. Die mal genialen, mal einfältigen Setzer-, Sätzer- oder Säzzerbemerkungen, wie sie mitunter auch heute noch Artikel zieren, sind ein Residuum des verzweifelten Versuches, diese Arbeitsteilung aufzuheben.

Der Versuch scheiterte übrigens spätestens beim Putzen. Daß jeder selbst für die Hygiene an seinem Arbeitsplatz, für geleerte Aschenbecher und leere Papierkörbe, für gespülte Kaffeetassen und saubere Fußböden zu sorgen hatte, galt als alternative Selbstverständlichkeit. Erst als Schmutz und Schimmel unübersehbare Ausmaße annahmen, versuchte man es mit Leistungsprämien: 20 Mark fürs samstagnachmittägliche Saubermachen. Der Erfolg: Genau drei Personen nahmen das Angebot an, eine Griechin, ein Türke und ein Libanese. Peinlich, die ausländischen Kollegen putzten den deutschen Dreck weg. Also gab man die Arbeit umgehend an eine – selbstredend alternative – Gruppe von Profis ab, die sich den putzigen Namen „Kollektiv Roter Besen“ zugelegt hatte.

Schwieriger tat sich die taz-Belegschaft schon mit ihren Entscheidungsstrukturen. Hierarchien paßten nicht ins Weltbild einer alternativen, egalitären politischen Kultur. Außer einem gewählten ehrenamtlich tätigen, über die ganze Republik verteilten Vorstand hatte der größte selbstverwaltete Betrieb Deutschlands, der zu Spitzenzeiten 212 Personen beschäftigte, lange Zeit überhaupt kein Gremium außer dem zweiwöchentlich tagenden „Wattstraßenplenum“, benannt nach dem damaligen Sitz der Redaktion.

Die basisdemokratisch motivierte Ablehnung klarer interner Entscheidungsstrukturen bei permanentem Entscheidungsdruck führte dazu, daß sich statt formeller Hierarchien schon bald informelle Hierarchien herausbildeten. Oben war dann, wer mehr Informationen besaß, besser reden konnte, Charisma hatte, über natürliche oder angemaßte Autorität verfügte und vor allem eine Lobby hinter sich zu scharen wußte.

Während in formellen Hierarchien die Funktionsträger je nach getroffener Regelung gewählt oder abgewählt werden können, werden in informellen Hierarchien die heimlichen Chefs im wesentlichen über Cliquenabsprachen, Seilschaften, Intrigen, ideologisch verbrämte Scheinkämpfe in ihre Stellung gehievt oder aus ihr verdrängt. Während die formelle Hierarchie Verantwortlichkeiten festschreibt, kann sich in der informellen Hierarchie jeder der Verantwortung entziehen, weil er ja förmlich nie eine übernommen hat. Das Überleben in einem alternativen Betrieb wurde so zum Härtetest, bei dem des öftern taz-Mitarbeiter – manchmal tränenüberströmt – durchfielen.

Dazu kamen die Erfahrungen mit der Plenardemokratie. Der endlosen Sitzungen müde – auf denen nichts entschieden wurde oder eine Mehrheit etwas beschloß, was bei der nächsten Sitzung von einer anderen Mehrheit wieder außer Kraft gesetzt wurde –, riefen immer mehr Redakteurinnen und Redakteure nach Kommandostrukturen. Bislang völlig unübliche Wörter wie Weisungsbefugnisse, Sanktionsgewalt, Abmahnung, Recht des Imprimaturs tauchten nun in den zahllosen Papieren zu immer häufigeren Strukturdebatten auf.

Schließlich richtete man in der Verwaltung und der Redaktion embryonale Formen künftiger Chefs ein. Man nannte sie zwar noch verschämt „Freigestellte“, weil sie eben von der gewöhnlichen Alltagsarbeit für höhere Aufgaben freigestellt wurden. Es entstanden Gremien, die so phantasievolle Namen wie „Elfenrat“ oder „Sixpack“ hatten. Es wurden Regeln für die Wahl und Abwahl ihrer Mitglieder aufgestellt und ihnen Komptenzen und Entscheidungsbefugnisse zugebilligt. All das war ein sehr mühseliger Prozeß, von den einen mißtrauisch beäugt, von den andern mit der Kraft der Verzweiflung vorangetrieben.

Inzwischen gehen den Redakteuren Kürzel wie CvD (Chef vom Dienst) und PC (product controller), Titel wie Inlandschef, Auslandschefin mühelos von den Lippen. Und ganz oben, in der Chefetage, sitzen eine Chefredakteurin und zwei Chefredakteure, die seit zwei Jahren nun sogar mit wirklichen Machtbefugnissen ausgestattet sind. Im übrigen motzt man über die Chefs wie anderswo eben auch. Man hat Respekt vor ihnen oder auch nicht. Man kennt ihre Schwächen und Stärken. Und manchmal liebt man sie sogar. Es sind jedenfalls unsere Chefs, keine Fremdkörper, zwei von ihnen gestandene taz-Macher der ersten Stunde und sogar ehemalige Hausbesetzer, also Pflanzen des Milieus, das die taz Ende der 70er Jahre erst möglich gemacht hat.

Die Einführung einer Chefredaktion kostete aberwitzig viel Diskussionen, Nerven und Sitzfleisch. Noch schwieriger war es allerdings, eine Lohndifferenzierung durchzusetzen. Bis vor etwas mehr als zwei Jahren erhielten die Chefredakteurin und der gerade eingestellte „Tickerknecht“ (eine Hilfskraft, deren Aufgabe darin besteht, die ständig ankommenden Agenturmeldungen zu sortieren), der 50jährige Professor in der Redaktion und die 18jährige Schulabgängerin im Satz mit aller Selbstverständlichkeit denselben Lohn.

Erst als nach dem Fall der Berliner Mauer, der wieder Bewegung in die deutsche Presselandschaft brachte, immer mehr – oft gerade die besten – Redakteure von der Konkurrenz schlicht weggekauft wurden, erst als die Ausblutung der Redaktion bedrohliche Ausmaße annahm, erst als die taz vor zweieinhalb Jahren vor dem finanziellen Kollaps stand und die Nekrologe bereits geschrieben waren, erst da fiel – im Zusammenhang mit ihrer Umwandlung in eine Genossenschaft – auch dieses letzte Tabu alternativer Produktionsweise. Es wurden nach Dauer der Betriebszugehörigkeit, nach Qualifikation, nach Funktion gestaffelte Löhne eingeführt.

Nun, nach dem Verlust vieler Utopien, nach dem mühsamen Abschied vom alternativen Projekt sind wir Teilhaber einer Genossenschaft, die einen Aufsichtsrat hat und eine Geschäftsführung, die eine Chefredaktion einsetzt, meine Vorgesetzten also. Ist die taz also ein Zeitungsbetrieb wie jeder andere?

Gewiß nicht. Noch nicht. Doch hat sie sich von ihrem historisch gewachsenen Milieu emanzipiert, das den Mitarbeitern des Kollektivs einst die familiäre Geborgenheit einer großen Wohngemeinschaft bot – als Kompensation für einen mageren Lohn und viel Arbeit und Engagement. Zu lange hat die taz ihren alternativen Charakter aus der Art und Weise ihrer Herstellung hergeleitet. Lange wollte sie nicht wahrhaben, daß sie ihre Eigenart und ihre Einzigartigkeit im Produkt, der Zeitung also, täglich neu beweisen muß – letztlich auf dem kapitalistischen Markt. Angesichts der rauhen Sitten, die da herrschen, mögen sich die entfernten Zeiten der Gründerphase wie ein Goldenes Zeitalter ausnehmen. Aus der Distanz allemal. Doch waren die Gesetze des Kollektivs – der letzte Beweis liegt in Bergen interner Diskussionspapiere – oft unerbittlicher als diejenigen des Marktes, auf dem sich die taz behaupten muß. Als alternative Zeitung. Eine andere Chance hat sie nicht.

Der Autor ist seit 1979 taz-Redakteur