„Was habe ich denn geschafft?“

■ Nira hat Abitur gemacht, studiert und arbeitet in einem Theater. Da sie Türkin ist, erscheint ihr Lebenslauf als etwas Besonderes – nicht aber für sie selber

Ich bin eine von vielen. Ich bin hier geboren, habe türkische Eltern, habe das deutsche Abitur gemacht und Wirtschaft studiert. Jetzt arbeite ich in einem türkischen Theater, als Vermittlerin zwischen Deutschen und Türken. Wie meine Zukunft aussieht, weiß ich nicht. Das hängt von der Zukunft Deutschlands ab. Ich möchte dort leben, wo ich weder deutsch noch türkisch sein muß. Ich möchte ich sein. Das ist alles.

Deswegen fühle ich mich auch nicht besonders berufen, ein Portrait über mich zu schreiben, das in einer Zeitung abgedruckt werden soll, die von Menschen gelesen wird, die gegenüber Ausländern angeblich mehr Verständnis haben. Ich denke auch nicht, daß ich eine besonders tragische oder traurige Vergangenheit habe. Dadurch, daß ich ein sehr strenges Elternhaus hatte, ist bei mir der Drang nach Unabhängigkeit und Freiheit stärker ausgeprägt. Wäre es anders gewesen, hätte ich vielleicht das Bedürfnis nach Geborgenheit und Wärme gehabt.

Was soll ich also über mich schreiben? Alles, was ich sagen würde, würde anders verstanden und bewertet werden. Vieles wurde bisher geschrieben, über Mädchen und Frauen der zweiten Generation mit Problemen, die sie nicht bewältigen können. Meine Geschichte würde nur ein weiteres Blatt füllen und das Bild der armen, unterdrückten Wesen vervollständigen. Ich aber wurde ja angesprochen, weil ich es „geschafft“ habe. Was hab' ich denn geschafft? Habe ich denn meine Unabhängigkeit allein Deutschland zu verdanken? Auch wenn meine Eltern nicht ausgewandert wären, so hätte sich doch nicht automatisch meine Identifizierung auf Ehefrau und Mutter beschränkt. Auch in Istanbul oder Izmir hätte ich meine beruflichen und persönlichen Neigungen ausleben können. Die Unterschiede sind gar nicht mal so groß, wie die meisten glauben. Zwischen meiner Cousine Dilsad in Istanbul und meiner Freundin Susanne in Köln gibt es genauso wenige Unterschiede wie zum Beispiel zwischen einer Maria aus dem Schwarzwald und einer Fatma aus dem Taurus- Gebirge. Was für Gemeinsamkeiten bestehen aber zwischen Maria und Dilsad? Will sagen: Die Unterschiede liegen zwischen Dörflern und Städtern und nicht zwischen Deutschen und Türken. Und sonst?

Statt eines türkischen Passes habe ich einen deutschen Paß. Nicht deutsch oder türkisch sein war für mich die Frage, sondern mit welchem Paß bin ich freier. Es ist für mich ein Dokument, das mir viele Möglichkeiten eröffnet hat. Ich muß nicht mehr stundenlang in Konsulaten warten, um ein Visum zu bekommen. Nicht nur allein in den Gedanken bin ich jetzt frei, zu reisen. Hätten sie mir aber meinen türkischen Paß nicht genommen, dann hätte ich ihn auch weiterhin behalten.

Der Ausweis erinnert mich an meine Herkunft. Meine Vergangenheit und meine Kindheit ist mir wichtig. Auch meine Eltern, die nur versucht haben, das zu bewahren, woran sie geglaubt haben. Würde ich sie verleugnen, würde ich nicht meine Mitte finden, wäre ich keine Brücke mehr, wäre zerrissen, wäre einsam. So aber fühle ich mich eher als bindendes Glied zwischen meiner Familie und einer Gesellschaft, die nicht nur kalt ist, sondern auch Sicherheit gibt, Deutschland eben.

In uns wächst eine eigene Kultur, die von beiden etwas hat. Sie ist offen und kritisch. Jemand meinte einmal zu mir, ich sei so erfrischend anders. Solange ich jedenfalls nicht als Exotin oder Folkloristin abgestempelt werde, will ich das auch sein.