Zerrieben zwischen den Kulturen

■ Nur wenige junge Türkinnen haben die Möglichkeit, mit jemandem über ihre Probleme mit der Zwangsheirat zu reden / Wenn sie eine Beratungsstelle aufsuchen, müssen sie das zumeist verheimlichen

Verschüchtert und ängstlich die einen, trotzig und aufgewühlt die anderen, so betreten türkische Mädchen aus Karlsruhe und Umgebung die Sprechstunden des „Begegnungs- und Beratungszentrums für Ausländer und Flüchtlinge“. Die Adresse des Beratungszentrums haben sie vom Lehrer oder der Arbeitskollegin. In der Regel kommen sie aber erst dann , wenn der Konflikt schon auf einen dramatischen Höhepunkt zusteuert. Sie suchen das Gespräch mit einer Frau, mit einer deutschen, weil sie sich etwas keineswegs Selbstverständliches erhoffen, nämlich daß man ihnen Verständnis für ihre Lage entgegenbringt.

Anlaß für die Verzweiflung vieler junger Türkinnen, wie zum Beispiel der siebzehnjährigen Emine, ist die vom Vater gegen den Willen der Tochter arrangierte Eheschließung. Sie ist oft der Schlußpunkt einer Kette von Erziehungsmaßnahmen, mit denen die in Deutschland aufgewachsene und dementsprechend emanzipierte Tochter dahin gebracht werden soll, dem Idealbild der türkischen Frau zu entsprechen. Die vom Vater eingeleiteten Disziplinierungsversuche richten sich dabei gegen entscheidende Dinge: gegen ihren Wunsch, eine weiterführende Schule zu besuchen, gegen ihre Art aufzutreten, gegen ihre Kleidung, die nicht seinen Vorstellungen entspricht. Die Umerziehungsversuche, die in den meisten Fällen von der Mutter mitgetragen werden, reichen über Prügel und Einsperren bis hin zur totalen Isolierung vom Rest der Familie. Begleitet werden diese Strafaktionen von Beleidigungen und Demütigungen, die für ihre Persönlichkeitsbildung zerstörerisch und lähmend sind.

Emines Leidensgeschichte, die sie über Jahre zwischen Depression und Auflehnung gefangengehalten und gezeichnet hat, ist charakteristisch für die Situation vieler türkischer Mädchen der zweiten Generation. Weder die Betroffenen noch ihre Eltern und Familien sind in der Lage zu analysieren, was eigentlich abläuft. Der harte Existenzkampf in der Heimat hatte sie gezwungen, in den sechziger Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland zu gehen, um Geld zu verdienen. Sie wußten wenig über die Kultur ihres Gastlandes und hatten auch weder Zeit noch die Voraussetzungen, sich mit dieser anderen, fremden Kultur auseinanderzusetzen. Die meisten ließen sich erst gar nicht darauf ein, lebten in ihren weitgehend geschlossenen Kreisen unter sich und lernten die deutsche Sprache nur dürftig. Wenn sie aus den ländlichen Regionen der Türkei kamen, waren sie geprägt durch eine volkstümlich traditionelle Erziehung. Den Islam kannten sie vor allem durch die gelebte Praxis im Alltag ihrer dörflichen Lebensgemeinschaft, die noch wenig vom Säkularisierungsprozeß der modernen Türkei geprägt war, am wenigsten in bezug auf das Frauenbild.

Hier nun, in Deutschland, brach die andere Welt, die andere Kultur durch den Einfluß der Schulen gewaltsam in ihre Familien ein. Niemand hatte sie darauf vorbereitet. Ängste traten auf. Vieles am gesellschaftlichen Leben der Deutschen war ihnen unverständlich und fremd. Sie grenzten sich ab, doch dies gelang nur teilweise. Für türkische Familien ist ein Leben zwischen türkischer Tradition und deutscher Moderne nur selten zu meistern.

Weil darüber hinaus die Voraussetzungen für eine echte Auseinandersetzung mit den aufeinanderprallenden Kulturen fehlen, greifen die Eltern nun, in diesem Falle meistens die Väter, in ihrer Ohnmacht zum Mittel der Gewalt, um das Ausbrechen aus dem eigenen kulturellen Umfeld zu verhindern. Die betroffenen Mädchen werden vielfach zum Opfer dieses Kulturkampfes, durch den sie selbst zwangsläufig in eine tiefe Identitätskrise gestürzt werden. Spätestens nach der Einschulung werden sie mit einer anderen, vom Säkularismus geprägten Welt konfrontiert, wo es kaum noch Tabus gibt und die eigenen, von der Familie vermittelten Wertvorstellungen als unzeitgemäß gelten oder sogar lächerlich gemacht werden.

Lehrer könnten vermittelnd wirken und versuchen, den Konflikt zu entschärfen. Doch nur wenige tun dies, und ganz wird es ohnehin nie gelingen, den Druck, der von den MitschülerInnen kommt, aufzulösen. Ob es die Frage der Kleidung, der Teilnahme am Sportunterricht ist oder den Landschulheimaufenthalt der Klasse betrifft, stets muß das türkische Mädchen die vom Elternhaus auferlegten Verbote und Zwänge noch gegenüber den Mitschülern erläutern und verteidigen. Dabei sind die Eltern fast nie in der Lage, den eigenen Erziehungsstil auch zu begründen. Das Mädchen wird zwangsläufig zur Außenseiterin, weil sei sich von keiner Seite angenommen und bestätigt sieht.

Ein warmherziges Elternhaus könnte den Konflikt durch den Versuch zu verstehen und durch liebevolle Anteilnahme entschärfen. Tatsächlich aber durchlaufen die meisten diese existentielle Krise ohne Begleitung, von Familie und Gesellschaft ziemlich allein gelassen. Die türkischen Frauenvereine, denen die Problematik vertraut ist, werden als Anlaufstelle von den Eltern ebensowenig akzeptiert wie deutsche Beratungsstellen. Wenn die betroffenen Mädchen dort Hilfe suchen, stehen sie vor einem neuen Konflikt, weil sie dies heimlich tun müssen. So ist es nicht erstaunlich, daß in diesem zermürbenden Prozeß auf der Suche nach der eigenen Identität viele türkische Mädchen zerrieben werden und mit starken psychischen Deformationen zurückbleiben. Da gibt es jene, die resigniert unter den Schutz des Kopftuches zurückkehren und die Eheschließung mit dem aus der Türkei importierten Ehemann hinnehmen, weil sie keine Chance sehen, sich zu widersetzen.

Für viele Mädchen, die in Deutschland groß wurden, hat sich die großzügige Regelung des Ehegattenachzuges auch als Bumerang erwiesen, weil der in der Türkei erzogene Ehemann zusätzliches Konfliktpotential schafft. Oft ist er mehr am ausländerrechtlichen Status interessiert als an der Frau selbst. Dadurch wird die Frau zum attraktiven Handelsobjekt, die, in neue Zwänge gestellt, in die Depression ausweicht und mit schweren psychischen Schäden nicht selten als gebrochene Persönlichkeit zurückbleibt.

Bei den angedeuteten Fällen handelt es sich durchaus um extreme Handlungsweisen, und Eltern, die so rigoros vorgehen, können sich schlecht auf den Islam berufen, wie ein bekannter Hadith des Propheten zur Eheschließung von Töchtern belegt. Sie können sich ebensowenig auf den in der Türkei vielgepriesenen Atatürk berufen, der mit der Gestaltung des türkischen Zivilrechts nach dem Vorbild der Schweizer Verfassung die rechtliche Gleichstellung der Frau herbeiführen wollte. Die hier erwähnte Praxis ist als Rückfall zu bezeichnen.

Die wenigen unter den Frauen, die den Konflikt durch aktives Reagieren auf diese ungeheuerliche Herausforderung zu meistern verstehen, können als Persönlichkeiten daraus hervorgehen, die für das künftige Zusammenleben in unserer multikulturellen Gesellschaft einen wichtigen Beitrag leisten. Vielleicht gelingt es ihnen, künftigen Leidensgenossinnen auf dem schwierigen Weg in eine Identität weiterzuhelfen. Heide Meier-Menzel