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Gestörter Wortwechsel

■ In Berlin vertieft sich der Graben zwischen Natur- und Geisteswissenschaften / Technische und Humboldt-Universität werden ihrer Standbeine beraubt

Wir stellen mehr her, als wir uns vorstellen und verantworten können.Günther Anders

Gerüchten zufolge werden die Microfiches in der Bibliothek der FU- Germanistik vorzugsweise als Computer bezeichnet. Ohne Zweifel, es sind keine Computer, und zweifellos ist dies bedauerlich; denn traurig ist nicht nur, daß GeisteswissenschaftlerInnen jeden Bildschirm mißtrauisch betrachten, sondern auch, daß die Bibliothek weder einen Computer noch einen CD-ROM besitzt. So bewahrt sich in dieser Geisteswissenschaft, die einmal exemplarisch für alle betrachtet werden soll, beharrlich eine bücherstaubbedeckte Nostalgie, die allen technischen Neuerungen in der kleinen wie der großen Welt skeptisch gegenübersteht.

Das öffentliche Mißvergnügen und die politische Mißgunst, die den Geisteswissenschaften ins Gesicht bläst, läßt sich wohl nicht nur mit ihrem „massenhaften“ Vorkommen begründen, sondern auch mit einer gewissen Realitätsferne. Denn eine bloß traditionelle geisteswissenschaftliche Bildung mit so wenig Verständnis für Technik kann dem öffentlichen Ruf nach Orientierung kaum gerecht werden.

Daß nicht alle Rettungsversuche, die Geisteswissenschaften zu rechtfertigen, vom lärmenden Markt dieses Jahrhunderts übertönt werden, belegt Friedrich Dürrenmatt, der den „schönen“ Wissenschaften gleichsam die Leviten liest: „Die Welt dramaturgisch in den Griff zu bekommen, das geht heute ohne Beschäftigung mit der [Natur-]Wissenschaft überhaupt nicht.“

Die Naturwissenschaften, deren Erfolge über weite Strecken des 19. und 20. Jahrhunderts uns sowohl einen Fortschrittsoptimismus bescherten als auch unser gesamtes Weltbild prägten, sind ebenfalls durch unüber- und unabsehbare „Nach- und Nebenwirkungen“ im Ansehen tief gefallen. Ihre Lorbeeren verwelken, und der Ruf nach Orientierung und öffentlichem Dialog wird laut und lauter. Doch Revolutionen, so auch die technisch-wissenschaftliche Revolution, lassen sich nicht zurückdrehen.

Schließlich muß sich auch die Gesellschaft als Ganzes die Frage nach ihrer Haltung zu und ihrem Verständnis von Technik stellen. Wir diskutieren über Atommeiler, ohne eine Vorstellung zu haben, was Atomkraft ist. Und wir benutzen etwas so Selbstverständliches wie ein Radio, ohne zu verstehen, was es mit einem Transistor auf sich hat.

Vor diesem Hintergrund bekommt Jens Reichs Forderung nach „Glasnost für die Genforschung“ ihren Sinn, also auch für die Naturwissenschaften und ihre Anwendung.

Doch wie ist es um die Wissenschaftspolitik bestellt, die schließlich die Rahmenbedingungen für einen derartigen öffentlichen Diskurs schafft? In Bonn wird ein isoliertes „Ethik-Institut“ gegründet, und in Berlin lagert der Wissenschaftssenator die Naturwissenschaften nach Adlershof aus und amputiert sie gleichsam vom Rest der Universität. In ähnliche Richtung geht auch sein Ansinnen, die Lehramtsausbildung mitsamt den Geisteswissenschaften an der TU abzuschaffen. Anstelle beide Bereiche anzunähern und Verständnis für- und voneinander zu schaffen, wird eine Politik des Wissenschaftsseparatismus betrieben. Die Zukunft der Wissenschaft von Berlin sieht dann so aus, wie Robert Musil die Situation seiner Zeit einst beschrieben hat: „Es gibt also zwei Geistesverfassungen, die einander nicht nur bekämpfen, sondern gewöhnlich, was schlimmer ist, nebeneinander bestehen, ohne ein Wort zu wechseln. ... Die eine begnügt sich damit, genau zu sein, und hält sich an die Tatsachen; die andere schaut immer ... auf ewige große Wahrheiten. Die eine gewinnt an Erfolg, und die andere ... an Umfang.“

Eine Wissenschaftspolitik, die sich im isolierten Aufbau der Naturwissenschaften und dem Abbau der Geisteswissenschaften verliert, rechtfertigt sich ebensowenig wie eine allgemeine Berlinpolitik, die sich lediglich auf die zwei Beine von Olympia und Hauptstadtumzug stellte, und jetzt, nachdem das eine Bein fehlt und das andere in Bonn ruht, hilflos in die Zukunft humpelt. Dieter Neidlinger

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