Ausbrecher, Eindringlinge und Eroberer

Pflanzen und Tiere besiedeln fremde Lebensräume / Viele Exoten sind zu einer unerwarteten Bedrohung geworden / Die Parallelen zur Freisetzung transgener Organismen sind umstritten  ■ Von Andreas Sentker

„Die Natur ist doch kein Parkhaus.“ Immer wieder kann sich der Tübinger Populationsgenetiker Klaus Wöhrmann über die naive Vorstellung einiger Biologen aufregen, die ökologische Nischen Abstellplätzen gleichsetzen und deren Zahl und Belegung diskutieren. Hintergrund und Anlaß der Auseinandersetzung sind fremdländische Eindringlinge – Ausbrecher und Immigranten der etwas anderen Art. Unzählige Tier- und Pflanzenarten haben sich in Regionen verbreitet, in denen sie ursprünglich nicht heimisch waren. Sie entwichen aus botanischen Gärten, reisten als blinde Passagiere in Flugzeugen, Zügen und Schiffen mit oder wurden bewußt vom Menschen angesiedelt. Damit sich solch ein Neubürger erfolgreich verbreiten könne, müsse er zunächst eine freie ökologische Nische finden, behaupten einige Wissenschaftler. Sie sollten es besser wissen. Schon die starre Architektur der Parkhausmetapher stimmt nicht mit der sich stetig verändernden Lebenswelt überein. Die Natur als Stilleben ist ein romantisch verklärtes Ideal, mit der Realität hat das Bild keinerlei Ähnlichkeit.

Seit Lebewesen die Erde bevölkern, haben sie sich neue Lebensräume erobert und verändert. Die erfolgreichsten Neuankömmlinge verbreiten sich in Windeseile. Sie produzieren eine unübersehbare Zahl von Nachkommen, können sich veränderten klimatischen Verhältnissen sehr schnell anpassen oder verdrängen durch ihr rasantes Wachstum einheimische Arten. Der Steckbrief der ökologischen Karrieristen aber reicht nicht aus, um eine Einwanderung und erfolgreiche Etablierung vorherzusagen. Der Zufall spielt eine große Rolle. Findet ein Exot ähnliche Bedingungen wie in seiner Heimat vor, dann steht seinem Erfolg nur selten etwas im Wege. Besonders gute Bedingungen werden den Neuankömmlingen vor allem dann geboten, wenn das ökologische Gefüge einer Region durch Eingriffe des Menschen bereits empfindlich gestört ist.

Die Invasionsmeldungen häufen sich: südeuropäische Giftalgen in der Nordsee, Quallen aus Mittelamerika im Schwarzen Meer, japanische Schlingpflanzen in den Südstaaten Nordamerikas. Heute ist nicht die Natur, sondern an erster Stelle der Mensch für die Verbreitung der Exoten verantwortlich. Seit Marco Polo und Kolumbus hat die Zahl der Öko-Immigranten deutlich zugenommen, die Pioniertaten der großen Abenteurer öffneten nicht nur den Menschen neue Reisewege. Die Kanadische Goldrute gelangte im 17. Jahrhundert nach Europa. Mit 300 Jahren Verzögerung breitet sie sich nun rapide aus. In ihrer nordamerikanischen Heimat zählen Pflanzenkundler 273 Feinde, in Europa ist sie nicht bedroht. Die Verzögerung von Jahren und Jahrzehnten von der Einführung exotischer Arten bis zu ihrer massiven und folgenreichen Verbreitung macht eine Vorhersage ökologischer Auswirkungen nahezu unmöglich.

Die komplexe Dynamik biologischer Invasionen können die Wissenschaftler ideal in unzugänglichen, nach außen abgeschlossenen Gebieten studieren. Inselregionen wie Hawaii und Neuseeland wurden in den letzten Jahren besonders intensiv erforscht. Im 14. Jahrhundert landen die Maori, ein kleines polynesisches Volk, an der Küste Neuseelands. Mit an Bord der Maoriboote sind blinde Passagiere: Ratten, die die Insel sofort und äußerst erfolgreich in Besitz nehmen. Vor der Ankunft des Menschen hatte es auf Neuseeland außer einer Fledermausart keine Säugetiere gegeben. Die Ratten stürzen sich auf alles, was nicht schnell genug wegrennen kann. Hunderte von einheimischen Arten sind plötzlich vom Aussterben bedroht. Doch die polynesischen Nager sollten ihre Vormachtstellung so schnell wieder verlieren wie sie sie eingenommen hatten. 1769 entdeckt James Cook den Seeweg nach Neuseeland. Mit den ersten englischen Einwanderern kommt die europäische Haus- und Wanderratte. Kräftiger gebaut und deutlich fruchtbarer, verdrängt sie ihre insulanen Verwandten.

Die blinden Passagiere hatte niemand auf der Rechnung. Doch auch die bewußt geplante Einführung von Arten hat immer wieder das Gegenteil von dem bewirkt, was in der guten Absicht der Importeure lag. So hat im 14. Jahrhundert vermutlich nicht nur ein Kälteeinbruch die Wikinger aus Grönland vertrieben. Die Seefahrer brachten Rinder und Schafe auf die Insel, die karge Vegetation war in kurzer Zeit weggefressen, schwere Erosionsschäden waren die Folge. Bereits 1350 war die erste Besiedlung Grönlands zum Scheitern verurteilt, die klimatischen Veränderungen hatten aber erst 40 Jahre zuvor eingesetzt.

Nur selten scheinen die Menschen aus solchen Erfahrungen zu lernen. Scheinbar erfolgreiche kurzfristige Lösungen verhindern einen Blick in die weitere Zukunft. Nachdem Cacyreus marshalli, ein südafrikanischer Schmetterling, nach Mallorca, Menorca und Ibiza verschleppt wurde, hat er jetzt auch das spanische Festland erobert und droht sich weiter auszubreiten. Die Schmetterlingsraupen verzehren mit Vorliebe Geranien. Damit ist die meistverkaufte Balkonblume Europas in Gefahr. Weil der Falter in Spanien keine natürlichen Feinde hat, wollen Wissenschaftler eine Schlupfwespenart aus Südafrika einführen. Noch ist unklar, ob die Wespe nur die unerwünschten Eindringlinge bekämpfen wird. Die Rettung der Geranie aber scheint von nationalem Interesse zu sein.

Doch nicht immer sind so planvolle – wenn auch sehr oft zu kurz gedachte – Überlegungen die Ursache für die Ausbreitung exotischer Arten. Nachdem die „Ninja Turtles“, abenteuer- und kampflustige Schildkröten, über die Kinoleinwand tobten, brach in Frankreich eine regelrechte Turtle-Welle aus. Florida- Wasserschildkröten wurden zum begehrten Weihnachtsgeschenk für die lieben Kleinen. Nach den Festtagen ereilte die Schildkröten das Schicksal vieler lebender Präsente: sie wurden ausgesetzt. Vor allem in Südfrankreich fanden die räuberischen Panzertiere ideale Bedingungen, sie vermehrten sich rapide und fraßen ganze Fischteiche leer.

Trotz intensiver Studien können die Ökologen eine Ausbreitung oder Etablierung exotischer Arten kaum vorhersagen. Nicht nur die unübersehbare Dauer ökologischer Prozesse versperrt den Blick. Zu komplex ist das dichte Gefüge der Faktoren, die Erfolg oder Mißerfolg einer Invasion bestimmen. Wie schnell die biologischen Neubürger Beziehungen anknüpfen, verwundert selbst die Experten. Euphydryas editha, ein in Nevada heimischer Falter, legt seine Eier mit Vorliebe auf den Blättern des Spitzwegerich ab. Die Pflanze wurde aus Europa in die Vereinigten Staaten verschleppt. Die exotische Liaison hat sich innerhalb eines einzigen Jahrzehnts entwickelt.

Einige Ökologen schlagen vor, die Fremdlinge als Modellorganismen heranzuziehen, um die Freisetzungsrisiken gentechnisch veränderter Arten zu beurteilen. Dieser Ansatz wird von vielen Wissenschaftlern abgelehnt. Sie kritisieren, die Ereignisse seien nicht vergleichbar, die transgenen Organismen seien zudem keine exotischen Arten. Eines jedoch machen die Modelle deutlich: Eine sichere Prognose ist nicht möglich. Eigenschaften wie die erhöhte Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten oder klimatische Veränderungen können einer Pflanze den entscheidenden Vorsprung vor der Konkurrenz verschaffen. Für die gentechnische Risikoabschätzung hält das Exotenmodell aber noch eine weitere wichtige Lektion bereit: Selbst in den wenigen Fällen, in denen Wissenschaftler ein ökologisches Risiko eindeutig vorhersagen konnten, wurden ihre Prognosen aufgrund wirtschaftlicher Erwägungen ignoriert, so geschehen Ende des 19. Jahrhunderts, als in Neuseeland zur Bekämpfung einer vom Menschen verursachten Kaninchenplage Marderartige eingeführt wurden. Die Räuber setzten das Werk der Ratteninvasoren fort und dezimierten die natürliche Artenvielfalt der Insel. Die Kaninchen aber vermehren sich nach wie vor sprichwörtlich.