Der Soweto-Veteran von Transvaal

Besuch beim südafrikanischen Fotografen Sam Nzima, dessen Bilder vom Schüleraufstand 1976 um die Welt gingen / Aus dem Soweto-Pressestar wurde ein Homeland-Schnapsverkäufer  ■ Aus Lillydale Willi Germund

Das Schwarzweißfoto hängt in einem schlichten Rahmen zwischen bunter Whisky-Reklame an der Wand. Ein Halbwüchsiger, der mit Hector Pieterse in den Armen zu einem Auto eilt – die Augen voller Verzweiflung und voll vergeblicher Hoffnung, dem blutüberströmten Jungen in Schuluniform vielleicht doch noch helfen zu können. Neben den beiden läuft Hectors Schwester. „Ich hatte so etwas noch nie erlebt“, erinnert sich Sam Nzima heute in dem kleinen Büro seines „Bottle Store“, des Schnapsladens von Lillydale. Er fotografierte die Szene am 16. Juni 1976, das Foto ging um die ganze Welt – als Symbol des Schüleraufstands in Soweto gegen Südafrikas Apartheidregime.

Weiße südafrikanische Polizisten eröffneten damals das Feuer auf unbewaffnete schwarze Schüler. Mehr als hundert Kinder starben. Das Foto bewies, wie brutal Südafrikas Staat mit Gegnern jeden Alters umging. Es wurde zum Symbol des Widerstands gegen die Apartheid – und es beendete die Karriere von Sam Nzima als Fotograf. „Die Polizei suchte mich, sie wollte mich verhören oder verhaften“, erzählt der schmale sechzigjährige Mann. Mit seiner zierlichen Frau Thelma setzte er sich ein Jahr später von Johannesburg in seine Heimat ab, nach Lillydale im Homeland Gazankulu in der südafrikanischen Provinz Transvaal. „Die Weißen, die uns so unterdrückt haben, waren Teufel“, sagt Nzima, „aber keine Christen.“

Energisch stützt er die Ellbogen auf die lange Holztheke seines Bottle Store. Der ehemalige Fotograf hat es zu bescheidenem Wohlstand gebracht. Hinter der riesigen Theke stapeln sich die Flaschen mit Whisky, Bier und Branntwein. Nebenan sorgt abends seine „Public Bar“ für die einzige Abwechslung weit und breit. Im Bottle Store summt ein riesiger Ventilator. Liebevoll entstaubt Nzima eine blaue Eisschüssel und sortiert die dazugehörigen Gläser auf ein Regal neben dem Tresor. „Oh ja“, sagt er, „ich bin sehr bitter. Sie haben uns so viele Chancen geraubt. Es gab keine Erziehung für uns, und es gab keine guten Arbeitsplätze.“

Sam Nzima blickt auf ein von der Apartheid gebrandmarktes, typisch südafrikanisches Leben zurück. Im Alter von zehn Jahren mußte er die Schule verlassen und statt dessen auf der Farm schuften, auf der seine Eltern lebten. „Der weiße Bauer verlangte, daß ich arbeitete. Ich mußte ohne Lohn arbeiten, nur damit ich auf dem Hof leben durfte.“ Im Alter von neunzehn Jahren verließ Sam Nzima im Jahr 1953 sein Heimatdorf im Osten der Provinz Transvaal und folgte den Lockungen von Egoli, der „Stadt des Goldes“, wie Johannesburg oft umschwärmt wird. Rund 13 Millionen der 40 Millionen Südafrikaner leben inzwischen rund um die Wirtschaftsmetropole.

Nzima verdingte sich als Küchenjunge in einem Hotel. In der Freizeit holte er per Fernkurs eine Ausbildung nach. Südafrikas regierende Nationale Partei zog damals gerade die Zügel der Rassendiskriminierung an. „Ich konnte nicht aus dem Hotel gehen“, erzählt er, „ich hatte keinen Paß und wäre sofort wieder nach Gazankulu gebracht worden, wenn ich der Polizei in die Finger geraten wäre.“ Aber schließlich kaufte Sam sich eine altertümliche Kastenkamera. An Wochenenden lichtete er damit die schwarzen Hausangestellten ab, die in den Villen der Weißen arbeiteten. Dann schrieb er ein paar Leserbriefe an The World, die damalige Tageszeitung für Schwarze in Soweto, die damit auf ihn aufmerksam wurde.

Plötzlich steht Nzima auf und wühlt in einem Tresor herum. Mit einer vergilbten Ausgabe der Segeberger Nachrichten aus dem Jahr 1974 setzt er sich wieder an den Tisch. „Wir waren damals in mehreren Städten, auf Einladung der Botschaft“, erinnert er sich an seine erste Auslandsreise – nach Deutschland. Was ihn besonders faszinierte? Die Autos made in Germany. Kein Wunder, daß vor dem Bottle Store das kleine Modell einer deutschen Nobelmarke geparkt ist. „Die Autos halten länger“, rechtfertigt Nzima sich für den Hauch von Luxus.

„Mir geht es gut“, sagt er, „aber reich bin ich nicht. Ohne die Apartheid hätte ich viel mehr aus meinem Leben machen können.“ Selbst der Zeitungsverlag, der ihn schließlich fest anstellte, legte Sam Nzima herein: „Ich habe nie einen Pfennig von dem ganzen Geld gesehen, das die Zeitung mit dem Verkauf meines Soweto-Fotos eingenommen hat.“ Alle Zusatzeinkünfte aus dem Verkauf an Dritte gehören in Südafrika der Zeitung und nicht dem Fotografen. Aber das Gehalt reichte, um den Grundstein seines Bottle Store zu legen.

Heute ist der Name des Schnapsladens und seines Eigentümers weit über die Grenzen von Lillydale hinaus bekannt. In Sichtweite steht in großen Lettern „Sam Nzima Vorschule“ auf den beigen Wänden eines Gebäudes. „Ich habe von der Brauerei eine Spende für den Bau besorgt, und die Leute haben deshalb beschlossen, sie nach mir zu benennen“, sagt Nzima mit sichtlichem Stolz. Ohne solche Selbsthilfe würde es für die 3.000 Kinder in Lillydale bis heute keine Schulen geben. Gazankulu wurde einst von Südafrikas Apartheid-Strategen als Reservat für Schwarze eingerichtet, eines von insgesamt zehn Homelands. Aber die Beamten der vorgeblich „selbstverwalteten Staaten“ beschäftigten sich vor allem damit, Geld in die eigenen Taschen zu schaufeln.

„Mit einer Ausnahme haben wir hier alles selber gebaut“, erzählt Nzima. Die Ausnahme ist der Wassertank, zu dem Gazankulus Regierung die Hälfte der Kosten beisteuerte. Damit besitzt Lillydale nun im Gegensatz zu anderen Dörfern des Homelands Wasser. Die Frauen des Dorfes versammeln sich Tag für Tag mit Plastikkanistern und Eimern vor den drei Wasserstellen. „Wir haben erst vor kurzem Strom bekommen, das Telefon hier funktioniert mit Handvermittlung.“

Die Wege zwischen den runden Hütten sind voller Schlammpfützen. Das nächste Krankenhaus liegt 50 Kilometer entfernt, in Hazyview. Die Männer des Dorfes arbeiten entweder in Johannesburg, verdingen sich als Hilfskräfte auf einer der Zitrusfrüchtefarmen der Umgebung oder fanden einen Posten in den nahegelegenen privaten „Game Reserves“, auf denen sich vorwiegend ausländische Touristen gegen üppige Preise ein Stelldichein zur Jagd oder Fotosafari geben.

Aber trotz der Armut helfen Lillydales Einwohner, nicht zuletzt dank Nzimas Initiative, Hunderten von Flüchtlingen aus dem Nachbarland Mosambik. Die flohen vor dem Konflikt zwischen der dortigen Regierung und der von Südafrika unterstützten Rebellenbewegung Renamo. Der Krieg ist inzwischen beendet, einige der Mosambikaner kehrten schon wieder in ihre Heimat zurück. Ihre Erfahrungen haben Nzima in seinem Urteil noch bestärkt: „Bei der Flucht durch den Krüger-Park sind manche von Raubtieren angefallen worden. Aber die Menschen sind schlimmer.“

Kein Wunder, daß der ehemalige Fotograf Verständnis für die jungen Leute von heute hat, die ungeduldig auf Südafrikas erste demokratische und allgemeine Wahlen warten. Viele Weißen mögen Angst vor Rachegelüsten der Schwarzen haben, aber Nzima wiegelt ab: „Sie sind wie Vögel, die aus dem Käfig gelassen werden. Erst müssen sie die Freiheit erforschen und überall hinfliegen. Aber dann kommen sie wieder an den Platz zurück, an dem der Käfig steht.“ Sam Nzima ist Mitglied des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC), und auch er kann kaum abwarten, daß die Wahlen endlich stattfinden. „Hier warten alle Leute ungeduldig auf die Wahlen.“ Irgendwann wird er wahrscheinlich sogar zum Bürgermeister von Lillydale gewählt werden.

Dem Induna, dem lokalen Häuptling, muß vor diesem Tag grauen. „Wir haben ihm gesagt, er soll seinen Mund halten, wenn es um Politik geht“, erzählt Nzima, „der ist sowieso total korrupt.“ Ein Büttel der alten Zeiten, dessen Tage ebenso gezählt sind wie die der weißen Regierung. „Für mich kommt das Ende der Apartheid zu spät“, sagt Nzima. Doch seine Verbitterung will er nicht als Begründung gelten lassen: „Wir müssen vergeben und vergessen. Denn sonst geht das immer so weiter.“