Ohne Tiger keinen Zirkus

Dem Zirkus Rafael soll die Haltung von Tieren verboten werden / Ein Direktor kämpft wie ein Löwe gegen die zuständige Veterinärärztin  ■ Von Gabriele Maier-Spohler

Der Taxifahrer schüttelt den Kopf. „Also das verstehe ich nicht, wenn's doch jemand gibt, der die Tiere nimmt, weshalb sind die dann überhaupt noch da?“ „Da“ ist in Fürstenfeldbruck, wo der „gestrandete Zirkus Rafael“ (Süddeutsche Zeitung) seit einem halben Jahr festsitzt. Mit 32 Raubkatzen war der Zirkus nach Fürstenfeldbruck gekommen. Geblieben sind davon 14. Ein Teil wurde auf Anordnung des Landratsamtes getötet. Einige brachte die Amtstierärztin in einer Auffangstation für alte Zirkustiere unter. Die anderen hätte ein englischer Zirkus gerne in seine Obhut genommen. Doch das läßt das deutsche Tierschutzgesetz nicht zu.

Der Grund für das behördliche Engagement: Der Zirkusdirektor hat sich nach Ansicht mehrerer Amtsveterinäre über längere Zeit als unfähig erwiesen, Tiere zu halten. Die Akte „Zirkus Rafael“ ist dick. Sie wurde, entsprechend der Reiseroute des Zirkus, von Veterinär zu Veterinär weitergereicht. Viele klappten die Aktendeckel zu. Eine nicht. Sie handelte. Obwohl das Handeln von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Denn Zirkustiere, vor allem Raubkatzen, gibt es im Überfluß. Und es gibt (außer dem englischen Zirkus) niemand, der sie haben will.

Fürstenfeldbruck, Volksfestplatz. Hier hat der Zirkus vor einem halben Jahr sein Lager aufgeschlagen. Die Tiere sind mittlerweile außerhalb der Stadt untergebracht. Anwohner hatten sich wegen des nächtlichen Gebrülls und des Gestanks der Löwen beschwert. Jetzt sind nur noch die Zirkuswagen da, Zugmaschinen, Anhänger. Sie sehen heruntergekommen aus. Unter einigen Wagen stehen Müllsäcke. Der Zirkus möchte aufbrechen, endlich weiterziehen. Doch er kann nicht. Das Geld für die Zulassung und Versicherung der Fahrzeuge fehlt. Nur ein Fahrzeug ist dem Zirkus geblieben: der metallicgraue Mercedes 500 des Herrn Direktor.

„Das sind unsere Freunde.“ Frau Zirkusdirektor winkt einer Passantin zu, die dem wohlgenährten Zirkushund Barry ein Häppchen vorbeibringt. Jeden Tag, so erzählt sie, kommen Leute und bringen Futter vorbei – Gemüse für die Ziege, ein Häppchen für den Hund. Die Ziege meckert. An einem Strick angebunden, springt sie ständig den Halbkreis ab, den der Strick ihr als Freiraum läßt. Ab und zu hüpft sie in den Zirkuswagen, aber nur um gleich wieder herauszuspringen. „Es gibt mehr Leute, die für uns sind als gegen uns“, sagt die blonde, etwas dralle Zirkusdirektorin mit dem rotgeschminkten Mund und den Hauspantoffeln an den schwarzbestrumpften Füßen. 80 Prozent seien für den Zirkus, 20 Prozent für das Landratsamt. „Und die Amtsveterinärin, wissen Sie was, das sagen sogar die Leute vom Schlachthof: die spinnt.“ Bei der Frage, ob man denn einen kleinen Tiger mit deformierten eingeknickten Beinen auf dem Boden rutschen sah, holt die Zirkusdirektorin ganz tief Luft. Diese Medien, schimpft sie, mein Mann läßt schon gar niemand mehr filmen, das Fernsehen schmeißt er gleich raus, die haben nur gegen uns gearbeitet. Was denn nun die Wahrheit sei, wie das wirklich mit dem Tiger gewesen sei? „Den hat die Mutter nicht angenommen, und Sie wissen ja, wie das ist, wie bei Kindern, die Muttermilch ist halt doch das beste. Ohne Muttermilch wird das Baby nichts.“ Man habe versucht, den Kleinen aufzupäppeln, aber das sei nicht gegangen. Nur der eigenen Kinder wegen, die an dem Tier gehangen hätten, hätte man es nicht gleich getötet. Traurig, daß das Tigerbaby getötet werden mußte, ist sie nicht. Schließlich hätte es jeden Tag 12 bis 15 Mark Futterkosten verursacht. Und der Direktor ergänzt: „Außerdem kann man ein Tier, das so blöd ausschaut, nicht als Zirkustier gebrauchen.“ Da ist aber noch ein Tiger, der gestorben ist? An dessen Tod sei der Tierarzt aus München schuld, der erst gekommen sei, als es zu spät war. Der fünfjährige Tiger ging elend an einem Magendurchbruch zugrunde. „Das verstehe ich nicht, daß einem Tierarzt das Leiden eines Tieres so gleichgültig ist. In Wien, als unser Jaguar Kingo krank war, hatten wir einen Tierarzt, da hatte ich kaum den Telefonhörer aufgelegt, da stand er schon da. Das ist ein richtiger Tierarzt gewesen.“ Sie habe Schmuck verkauft, um für die Tiere Futter kaufen zu können. Tiere gehörten nun mal zum Zirkus. „Mit Artisten allein kann man keinen Zirkus machen. Die Leute wollen Tiere sehen, außerdem sind Tiere auch billiger als Artisten.“

Dr. Anna Schmiddunser, Leiterin des Veterinäramtes in Fürstenfeldbruck, geht mit festen Schritten an ihren Schreibtisch. Dort steht ein Wäschekorb mit Aktenordnern. Egal welchen Ordner sie aufschlägt, in jedem hat sie Beweise gesammelt, die bestätigen: Zirkusdirektor Korritnig ist unfähig, einen Zirkus zu führen. Ihm muß auf Dauer die Erlaubnis, Tiere halten zu dürfen, entzogen werden. Er hat seine Tiere in zu enge Käfige eingepfercht, fehlernährt und der Langeweile ausgesetzt. Der Alltag der Tiere ist trist. Sie haben, wie der Jaguar Kingo, der unermüdlich Purzelbäume gegen seine Käfigwand schlägt, psychisch Schaden genommen.

Der einsame Kampf der Tierärztin

Die energische Tierärztin kämpft gegen den Zirkus Rafael, seit er in den Zuständigkeitsbereich ihres Amtes kam. Sie kämpft dabei nicht gegen den Zirkusdirektor, sondern sie kämpft gegen das bestehende Tierschutzgesetz, das Landratsamt, die Gleichgültigkeit von Menschen, die in der Weihnachtszeit für niedliche kleine Löwen im Käfig vor dem Einkaufszentrum spenden, aber nicht nachdenken, wie es dem kleinen Löwen geht, wenn er in seinem Käfig ein großer Löwe geworden ist. Sie kämpft gegen die Ämterhierarchien, gegen andere Zirkusdirektoren, die neidisch sind, daß das Futter für die Rafael-Löwen von Tierfreunden und die Medikamente vom Staat bezahlt werden, und gegen die Fürstenfeldbrucker Bevölkerung, die es leid ist, ständig mit den Auseinandersetzungen um die Raubtiere genervt zu werden und die den Zirkus lieber heut als morgen ziehen sehen möchte. Dr. Anna Schmiddunser hat sich zwischen alle Stühle gesetzt, die es in Fürstenfeldbruck und Umgebung gibt. Die Umgebung reicht bis nach München, wo man ihr grollt, weil sie nicht erst im Staatsministerium freundlichst und ergebenst um Erlaubnis gefragt hat, ob sie die Tiere beschlagnahmen können sollen darf. Die Umgebung reicht auch bis Bonn, wo der Tierschutzbeauftragte der Bundesregierung, Dr. Gerhard Baumgartner, sich jetzt immer mal wieder fragen lassen muß, weshalb er seit über zwei Jahren von der fragwürdigen Tierhaltung im Zirkus Rafael gewußt hat, aber nichts tun kann, außer zu kommentieren: „Zirkustiere sind im Verhältnis zu Nutztieren mit zuviel Emotionen besetzt.“ Ja, sagt Anna Schmiddunser, trotz des Ärgers und der Berge von Arbeit würde sie alles sofort wieder genauso machen.

319 Mark Sozialhilfe bekommt der Zirkusdirektor für seine vierköpfige Familie im Moment. Er möchte einen seiner Zirkuswagen verkaufen. 30.000 Mark würde ihm das einbringen, rechnet er. Als Grund für die finanzielle Misere gibt er an, das neue Programm sei bei den Leuten einfach nicht angekommen. Drei Jahre schon sei es dem Zirkus schlechtgegangen. Früher habe der Zirkus 40 bis 50 Leute beschäftigt. Von diesen Zeiten träumt der Direktor.

Wer die Tiere in ihren Käfigen liegen sieht, hat nicht das Gefühl, daß es ihnen schlecht geht. Sie dösen. Kingo, der schwarze Jaguar, schlägt heute keine Purzelbäume wie beim letzten Besuch. Damals war sein Fell an einigen Stellen durchgescheuert. Es waren die Stellen, an denen er mit seinem Körper auf den unebenen Bohlen aufschlug. Weil es immer dieselben Stellen waren, war dort das Fell weg. Jetzt schläft Kingo zusammengekringelt in Katzenmanier. Der Zirkusdirektor war heute auf dem Landratsamt. Er hat ein Schreiben mitbekommen. Betrifft, steht da, Anordnung zum Vollzug nach Tierschutzgesetz Paragraph sechzehn. Hier Doppelpunkt Einschläfern von zwei männlichen Löwen. Die beiden Löwen, die gemeint sind, Sultan und Goliath, liegen friedlich da und schauen uns an. Erst als der Zirkusdirektor sich dem Käfig nähert, springt einer von beiden auf und zeigt dem Zirkusdirektor drohend sein Gebiß. „Sehen Sie, so ist das, der ist eifersüchtig.“ Die beiden seien homosexuell geworden, da könne man nichts machen. Etwas ratlos steht der Direktor vor dem Käfig. Die Löwen haben sich beruhigt.

„Der Sohn war der jüngste Dompteur der Welt“

Der Zirkusdirektor ist verbittert. Der Tierschutzverein München habe Geld gesammelt für seine Tiere. Viel Geld. Er wisse von 65.000 Mark. Dieses Geld wolle man ihm vorenthalten. Aber wenn es für seine Tiere gesammelt worden sei, sei es auch sein Geld. „Man will uns kaputtmachen“, sagt er. Sehr gut habe er selbst für seine Tiere sorgen können. Zwar habe er sie mit Euter gefüttert und nicht, wie für Raubtiere empfohlen, mit (teurem) Muskelfleisch und Knochen. Aber die Tiere hätten das gerne gefressen. Er listet auf, was das Landratsamt sich alles habe einfallen lassen, um ihn und seine Familie in die Enge zu treiben: Um die Tiere an den anderen Standort zu bringen, hätte die Spedition beauftragt werden sollen. Kostenpunkt: 18.000 Mark, die ihm dann in Rechnung gestellt worden wären. Er habe das für einen Bruchteil der Kosten machen können. 2.000 Mark hätte ihm das Landratsamt dann auszahlen müssen. Die wollte er für einen Rechtsanwalt nutzen. Doch das Landratsamt habe sie einbehalten, um sie mit der Sozialhilfe zu verrechnen. Beim Transport der Tiere in die Auffangstation seien die alten Wagen verwendet worden, obwohl deren TÜV abgelaufen gewesen sei. Und und und. Seine Liste ist endlos lang. Er hofft, daß der Rechtsstreit mit dem Landratsamt zu seinen Gunsten ausgeht. Das kann Jahre dauern.

„Unser Sohn war der jüngste Dompteur der Welt“, sagt die Zirkusdirektorin stolz. „Seit 750 Jahren sind die Korritnigs schon Zirkusleute und Gaukler.“ Daß die Gegenwart eher trist aussieht und auch der jüngste Dompteur älter wird, bedrückt sie nicht. Zusammen mit ihrem Mann hofft sie auf bessere Zeiten. Ein Auto fährt vor. Der junge Dompteur kommt mit zwei Benzinkanistern. Frau Direktor greift zum Staubsauger und saugt die Hundehaare vom Teppich am Eingang des Wohnwagens. „Schreiben Sie doch lieber was über uns, wenn wir wieder mit Programm auftreten“, sagt sie.

Nachtrag: Die Gewerkschaft der Tiere, eine neu gegründete Tierschutzgruppe, hat dem Zirkus Rafael einen Zirkuswagen abgekauft. Für andere gestrandete Zirkustiere, denen der Direktor davongelaufen ist. Beim Zirkus Rafael müssen sich die Tiere deshalb jetzt mit weniger Platz begnügen. Mit dem Geld für den Wagen hat Zirkusdirektor Korritnig seine Zugmaschinen angemeldet und das Quartier in Fürstenfeldbruck verlassen. Zwei Tage bevor das Tierhaltungsverbot, das das Landratsamt ausgesprochen hat, wirksam wurde. Die erste Vorstellung nach der halbjährigen Zwangspause fand vor fast leeren Rängen statt, schreibt die Lokalzeitung.Foto: (Der glückliche Tiger)

Dieter Klar