Freie Fahrt in allen Klassen

Sachsens ambivalente Verkehrspolitik: Nicht überall, wo „Rollende Landstraße“ draufsteht, ist auch eine ökologische Verkehrspolitik drin  ■ Aus Dresden Detlef Krell

Ab Herbst soll die Landstraße rollen. Zwischen Dresden und dem nordböhmischen Lovosice werden dann tagtäglich zehn Züge mit jeweils 25 Lastwagen huckepack über die Grenze rollen, hurtig am Stau vorbei. Noch sind an den Straßenübergängen in Zinnwald und Neugersdorf Wartezeiten für Schwerlaster von 20 und mehr Stunden üblich.

800 Brummis täglich wälzen sich über die B 170 quer durchs Osterzgebirge zum Zinnwalder Zollhäuschen; da fallen den Anwohnern die Familienbilder von den Wänden. Sachsens Verkehrsminister Kajo Schommer (CDU) will das ändern. „Wild entschlossen“ sei er, Laster ab 15 Tonnen auf die Schiene zu zwingen. Die „Rollende Landstraße“ ist keine neue Idee, aber Sachsen wäre das erste Bundesland, das handelt.

Nachdem nun auch der tschechische Ministerpräsident Václav Klaus grünes Licht signalisiert hat, scheint dem Start des ersten Zuges am 25. September, 16.35 Uhr ab Güterbahnhof Dresden-Friedrichstadt nichts mehr im Wege zu stehen. Sachsen erklärte sich bereit, mit einer Million Mark den Bau der tschechischen Umladestation Lovosice, zwanzig Kilometer südlich von Usti nad Labem, zu finanzieren. Allein im ersten Halbjahr wird das Projekt 25 Millionen Mark kosten. Das Steuergeld soll vor allem an Fuhrunternehmen gehen, die die zusätzlichen Betriebskosten durch das zweimalige Umladen ersetzt bekommen. Außerdem können sie, wenn sie ihre Brummis auf die Schiene setzen, auch noch Zeit gewinnen: In höchstens sechs Stunden soll alles vergessen sein: Umladen, Zoll und die 110 Kilometer lange Zugfahrt. Das Osterzgebirge wäre um ein Viertel der Lasterkolonne erleichtert. Soweit, so freiwillig. Falls die Spediteure nicht mitmachen, will Schommer im nächsten Frühjahr die B 170 für den Schwerlastverkehr sperren.

Das Projekt klingt gut, nach Vogelstimmen im Erzgebirgswald und nach Schweizer Plebiszit, sogar nach Umkehr von der Straße auf die Schiene. Bundesverkehrsminister Mathias Wissmann (CDU) ist von dem Alleingang gar nicht erbaut: „Wer mit Verbotsschildern arbeitet, stellt die Wurzeln unseres Wohlstandes in Frage“, dozierte er auf der Leipziger Automesse. Der Minister fürchtet den Präzedenzfall: „Wenn wir an einer Stelle Straßen sperren, wird an 20 anderen Stellen in Deutschland und Europa dieselbe Forderung erhoben werden.“

Der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes des Deutschen Güterfernverkehrs, Hans-Wilhelm Kreft, wettert ebenfalls gegen das Schommer-Projekt: „Befremdlich mutet es an, wenn die sächsische Landesregierung sich mit stark dirigistischen und prohitiven Vorhaben in die Arbeitsteilung der Verkehrsträger einschaltet.“ So würden die Subventionen überwiegend an osteuropäische Fuhrunternehmen fließen – an die Konkurrenz also, die sowieso schon mit „Preisvorteil“ auf deutschen Straßen fahre.

Dieser Streit war voraussehbar. Er ist aber nur ein marginaler im Vergleich zu den Fakten, die in Dresden und Bonn längst für die Schwerlasterflut auf neuen Betonpisten geschaffen wurden. Denn ein gigantisches Projekt namens „A 13 Dresden – (A 4) B.-Gr./CR“ wird die Entlastung der sächsisch- böhmischen Straßen bald nivellieren. Die Autobahn „Dresden– Prag“, wie sie im Volksmund heißt, soll nicht nur die beiden Metropolen miteinander verbinden. Sie ist vielmehr ein folgenschwerer Lückenschluß im europäischen Straßennetz, das Nadelöhr für Verkehrsströme zwischen Skandinavien und dem Balkan. Das von Schommer angestrebte und nach Rechtslage sehr fragwürdige Schwerlastverbot für die Bundesstraße würde schon in dem Moment zur Makulatur, wo sich der A-13-Grenzübergang für freie Fahrt in allen Klassen öffnet.

Soweit ist es frühestens im Jahr 2002. Bis dahin müssen vorzeigbare verkehrspolitische Erfolge her. Deshalb will sich Sachsen sogar mit einer Bundesratsinitiative stark machen und eine Änderung des Bundesfernstraßennetzes erreichen. „Noch vor den Wahlen zwingen wir damit die Politiker, zu ihren Beschlüssen über eine neue Verkehrspolitik zu stehen“, hofft Schommer.

Schon 1991 warnte in Dresden der Wiener Verkehrsexperte Hermann Knoflacher davor, daß sich mit der A 13 der Schwerlasterdruck auf die Alpenländer spürbar erhöhen werde, ganz im Sinne der Straßen-Lobby in der Europäischen Union. 38.000 bis 46.000 Autos sollen täglich auf der neuen Betonpiste fahren. Für Gutachten über die angeblich sieben untersuchten Trassenvarianten hat die Staatsregierung 4,2 Millionen Mark ausgegeben.

Heute will das Kabinett die Trasse festlegen. Die Verkehrsminister in Dresden und Bonn wollten von Anfang an nur die eine Piste: Sie schneidet Dresden an seiner südlichen Hügelkette, überspannt mehrere Landschaftsschutzgebiete und trifft am Rand des Osterzgebirges, bei Liebenau/ Breitenau, auf die tschechische Grenze. Die Baukosten werden inzwischen auf 1,4 Milliarden Mark geschätzt, das ist mehr als das Doppelte der noch im Bundesverkehrswegeplan veranschlagten Summe. Fundierte Kritik an der Trasse füllt Bände, die betroffenen Kommunen laufen Sturm. Längst avancierte die A 13 zum sächsischen Wahlkampfthema. Die SPD versuchte vergebens, sämtliche Planungen zu stoppen und alternativ eine Bundesfernstraße mit Erzgebirgstunnel zu thematisieren.

„Offensichtlich ohne Rücksicht auf Alternativen“ sei „für eine Autobahn als Verkehrsproblemlösung“ entschieden sowie die Trasse „vorwegnehmend festgelegt“ worden. Zu diesem Resümee gelangte ein „Ökologischer Rat“ von Verkehrsplanern, Medizinern, Naturschützern und anderen Fachleuten, der sich auf Initiative des Bundestagsabgeordneten Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/Die Grünen) konstituiert hat. Den Verdacht, daß die „Rollende Landstraße“ nur ein weiteres Alibi für die A 13 ist, nähren auch die Details des Schommer-Projekts.

So liegt der anvisierte Verladebahnhof Friedrichstadt mitten im Zentrum von Dresden. Jeder einzelne Schwerlaster, der den Anwohnern der B 170 als „Entlastung“ vorgezählt werden wird, muß zuvor in Dresden von der Autobahn herunter über eine Brücke und durch Straßen gefädelt werden, die schon heute, unter „normalen“ Bedingungen, verstopft sind. So wird auch die „Rollende Landstraße“ letztlich nach der neuen Autobahn lechzen.