Zwischen den Rillen
: Blues-Archäologie

■ Die Mundharmonika in frühen Aufnahmen aus dem Süden

„Da es in der Gegend, wo ich aufgewachsen bin, nicht viele Musikinstrumente gab, haben wir, wenn wir Musik machen wollten, einfach einen Draht mit zwei Nägeln an der Wand befestigt. Dann wurden zwei Steine darunter geklemmt, bis er richtig spannte und einen Ton von sich gab, wie eine Gitarrenseite“. So beschreibt „Blues Boy“ King (später B.B. King genannt) die simpelste Form musikalischer Subsistenz, wie sie in der untersten Schicht schwarzer Landarbeiter im amerikanischen Süden noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein vorzufinden war. Wenn kein Geld da war, um sich ein richtiges Instrument zu kaufen, behalf man sich eben mit dem „Einsaitigen an der Wand“, blies auf dem Kamm und schlug und scharrte den Rhythmus auf einem verbeulten Waschbrett.

Waren irgendwann einmal doch ein paar Pennies übrig, besorgte man sich im Gemischtwarenladen um die Ecke eine Mundharmonika, die unendlich viel billiger war als eine Gitarre – das Dollar-Instrument –, welche oft auch nur über den Versandkatalog zu bekommen war.

Schwarze „Harp“-Spieler gab es schon früher als den Blues. Von einem der Pioniere der Countrymusik, dem „Hillbilly“- Musiker Humphrey Bate ist bekannt, daß er das Harmonikaspiel als kleiner Junge in den Jahren kurz nach dem amerikanischen Bürgerkrieg (1861–65) von einem Sklaven erlernte. Für die schwarzen Sänger, die dann nach der Jahrhundertwende aus „Worksongs“, „Field Hollers“ und Balladen den Blues formten, war die Mundharmonika nicht nur ein zentrales Instrument ihres Stils. Sie war weit mehr: ein Wahrzeichen der Arme-Leute- Musik und das Blues-Symbol schlechthin.

Meistens waren es umherziehende Barden, die sie in den early days spielten, tagsüber auf den Straßen und nachts in Spelunken zum Trinken und Tanzen. Sie traten entweder alleine auf oder im Duo mit einem Gitarristen oder gar mit einer Jug-Band, wo neben dem Sperrmüllinstrumentarium aus „Zuberbaß“ (ein Metallzuber, mit einem Besenstiel und Draht bespannt) und „Jug“ (ein Krug oder eine Flasche, in die hineingesungen wurde) oft auch eine „French Harp“ zum Einsatz kam.

Fast jeder „Bluesman“ hatte Erfahrung mit der Mundharmonika, d.h. irgendwann einmal darauf gespielt. Auch wenn er später mit einem anderen Instrument von sich reden machte, stand die Mundharmonika oft am Anfang einer Musikerlaufbahn – weil sie als Kinderspielzeug betrachtet wurde. „Als ich sieben war, fing ich an, Mundharmonika zu spielen. Und mit neun konnte ich schon ein bißchen drauf blasen. Mit 13 war ich dann schon ziemlich gut und spielte mit einem Freund auf Picknicks und Fischbratfesten. Ich hätte niemals damit aufhören sollen“, erzählte Muddy Waters – Bandleader, Sänger und Slide-Gitarrist (!) – über seine ersten musikalischen Gehversuche. Von Blind Gary Davis ist Ähnliches bekannt, und von Robert Johnson berichtete ein Weggefährte: „Ich hatte keine Ahnung, daß Robert irgend etwas mit einer Harmonika anfangen konnte. Aber als unsere Gitarren bei einem Feuer in einer Kneipe draufgegangen waren, kam er auf einmal mit diesem alten Ding daher. Wir waren draußen auf dem Highway 61, und plötzlich fängt er an zu spielen, und keine paar Minuten später war die Straße schon von Autos blockiert. Leute hielten an und warfen uns Münzen zu. Und als wir in Steels/Missouri ankamen, hatten wir soviel Geld beisammen, um uns zwei Gitarren zu kaufen.“

Die großen Bluesharp-Spieler verfügten über besondere Paradenummern, in denen sie zeigen konnten, was sie „drauf“ hatten. Meistens handelt es sich dabei um Stücke, wo eine Alltagssitution musikalisch imitiert wurde, etwa eine Fuchsjagd (ja, das war wohl mal Alltag). Einer der frühen Meister dieses Genres war George „Bullet“ Williams, der Anfang der dreißiger Jahre mit Bukka White ein Duo gebildet hatte. Zu Williams' Spezialitäten gehörten aberwitzige „Eisenbahnfahrten“, die er auf der Harmonika nachahmte, indem er die Räder immer schneller drehen ließ, wobei die Lokomotive keuchte und piff. Ähnlich wirklichkeitsnah gelangen ihm „Gefängnisausbrüche“, die vom Hundegebell bis zum Tappen der Schritte alles enthielten, was eine echte Flucht aus dem Knast ausmacht.

Williams war neben Burl „Jaybird“ Coleman, der sich das Spiel auf dem Hosentascheninstrument schon als kleiner Junge selbst beigebracht hatte, der wichtigste Vertreter des „Alabama Stils“. Coleman tourte als Musikant mit „Medicine Shows“ durch den amerikanischen Süden, die mit großer Redekunst und bunten Showeinlagen den Leuten allerlei Quacksalbereien andrehten. Später war er mit der Birmingham Jug Band zu hören und wurde mit der Zeit mehr und mehr zum festen Bestandteil des Straßenbilds der Stadt, wobei er des öfteren an Straßenecken seine Schwester Lizzie begleitete.

Mit Ollis Martin sind die beiden auf einer Neuerscheinung vertreten, die frühen Harmonikablues aus Alabama dokumentiert, dem amerikanischen Bundesstaat, der als Sinnbild des tiefen Südens galt, mit allen auch negativen Implikationen, die der Begriff enthält. (Nicht zufällig nahm von dort 1955 die Bürgerrechtsbewegung ihren Ausgang.) Die Aufnahmen stammen aus den späten zwanziger Jahren und präsentieren den Blues in seiner authentisch rohen Form. Da macht es dann auch wenig, wenn die alten Schellacks etwas knistern. Christoph Wagner

Alabama Blues (1927–1930) mit Jaybird Coleman, Ollis Martin, George „Bullet“ Williams. Wolf- Records WSE 113 CD