Ein Traum auf dem Weg zur Kloake

Nach zwanzig Jahren Bauzeit geht das Wasserkraftwerk „Yacyreta“ zwischen Argentinien und Paraguay ans Netz / 50.000 Menschen müssen den Fluten des Paraná weichen  ■ Aus Yacyreta Astrid Prange

Ein penetranter Kotgeruch liegt in der Luft. Aus zerkratzten Plastiktellern löffeln Leute mit abgerissener Kleidung eine undefinierbare, pampige Brühe. Das schäbige Restaurant am Ufer des Paraná im paraguayischen Grenzstädtchen Encarnación ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Pralle Mittagssonne erhitzt die Abwässer, die aus der Hausmauer ungeniert auf den Gehweg rieseln und einen ekelerregenden Dunst verbreiten. Noch.

In fünf Monaten werden die Abwässer der schlichten Mittagskantine in den größten Stausee der Welt fließen. Wenn am 1. September neunzig Kilometer flußabwärts im Wasserkraftwerk Yacyreta die erste Turbine angeworfen wird und der Wasserpegel infolgedessen auf 2,91 Meter ansteigt, verschwindet die gesamte Altstadt von Encarnación unter den braunen Fluten des Paraná.

Alle 72 Tage, so sieht es die argentinisch-paraguayische Betreiberfirma „Entidad Binacional de Yacyreta“ (EBY) vor, soll eine weitere Turbine angeschaltet werden, bis der zurückgestaute Fluß im Jahr 1998 seinen endgültigen Wasserstand von zehn Metern Höhe erreicht haben wird. Bis dahin, so steht es in der Hochglanzbroschüre über „Yacyreta, positive Energie“, sollen sowohl Encarnación als auch Posadas, Hauptstadt der argentinischen Provinz Missiones, über eine vollständige Kanalisation verfügen. Wahrscheinlicher ist, daß sich der Stausee in eine gigantische Kloake verwandelt, denn bisher ist mit den Bauarbeiten für unterirdische Abwasserkanäle noch nicht begonnen worden.

Merkwürdigerweise scheint dies weder die Kantinengäste zu stören noch die Heerschar der paraguayischen Händler, die in Encarnación Importprodukte zu Billigpreisen an argentinische Touristen verscherbeln. „Das Wasser kommt frühestens in zwei bis drei Jahren“, ist sich Hassim Yassem sicher. Der Inhaber eines Elektronikgeschäftes in der Altstadt hat zur Zeit ganz andere Sorgen. Da die argentinische Regierung kürzlich die Importsteuer für Elektroerzeugnisse von 150 auf 40 Prozent gesenkt hat, bangt er um seine Kundschaft, denn es lohnt sich kaum mehr, für die Anschaffung eines Fernsehers nach Paraguay zu fahren.

Gemischtwarenhändler Rody Rochas glaubt immerhin daran, daß sein Geschäft schon in einem Jahr überschwemmt wird. „Die meisten Händler sind nicht von hier. Uns ist es egal, wo wir verkaufen“, erklärt der 33jährige. In dem neuen Geschäftszentrum „San Miguel“ unmittelbar hinter der Brücke über den Paraná, die Paraguay mit Argentinien verbindet, steht jedem der 542 paraguayischen Händler ein Grundstück mit fließend Wasser und Kanalisation zur Verfügung. Mit der Entschädigung der „Entidad Binacional de Yacyreta“ sollen sich dort die Geschäftsleute ein neues Zentrum errichten. Bis jetzt ist dieser Aufforderung allerdings noch niemand gefolgt.

„Die Arbeiten für den Staudamm ziehen sich bereits seit Jahrzehnten hin. Die Leute glauben einfach nicht mehr daran, daß Yacyreta jemals funktionieren wird“, erklärt Leopoldo Bartolomé die allgemeine Apathie. Die schier endlose Verzögerung der Bauarbeiten hat nach Ansicht des Anthropologen, der an der Universität von Missiones in Posadas lehrt, jeglicher Opposition gegen Yacyreta den Boden unter den Füßen weggezogen.

1992 sollte das Wasserkraftwerk eigentlich mit einer Gesamtkapazität von 4.050 Megawatt ans Netz gehen. Da die Umsiedlung von rund 10.000 Familien sowie begleitende Umweltschutzmaßnahmen jedoch noch langsamer als die Bauarbeiten vorankamen, muß der Stausee nun stufenweise gefüllt werden. Nach dem Willen der Weltbank und der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB), die das Projekt zusammen mit der argentinischen Regierung finanzieren, wird der Wasserstand erst 1998 seinen Höchststand, die „Quote 83“ erreicht haben – das sind zehn Meter über dem Meeresspiegel.

Im Vergleich zu dem brasilianisch-paraguayischen Wasserkraftwerk „Itaipu“ mit einer Kapazität von 12.600 Megawatt, das dreihundert Kilometer stromaufwärts liegt, nimmt sich „Yacyreta“ ausgesprochen bescheiden aus. Statt einem Gefälle von 120 Metern wie in „Itaipu“ liegt der Höhenunterschied in „Yacyreta“ bei 21 Metern. Die einzige Alternative, den Druck der Wassermassen zu erhöhen, war daher der Bau des riesigen Staudamms mit einer Länge von 72,5 Kilometern. Der Damm, ebenso wie das Überschwemmungsgebiet, liegen zu 70 Prozent auf paraguayischem Territorium.

Dennoch handelt es sich bei der zur Zeit größten Baustelle der Welt, die überwiegend von dem französisch-italienischen Firmenkonsortium „Eriday“ betrieben wird, um ein argentinisches Projekt. „Paraguay braucht gar keine Energie, deswegen zahlt es auch nichts“, stellt der Anthropologe Bartolomé klar, der bei der „EBY“ elf Jahre lang für Umsiedlungspläne verantwortlich war. Die Kapazität von Yacyreta entspricht 40 Prozent der aktuellen argentinischen Stromproduktion. „Der Bau ist nicht mehr rückgängig zu machen, Argentinien braucht die zusätzliche Energieproduktion“, erklärt der Anthropologe.

Antonia Assis, die mit vier Kindern in einer Bretterbude am argentinischen Ufer des Paraná haust, hofft durch den Umsiedlungsplan in den Genuß eines Backsteinhauses mit Wasser und Strom zu kommen. Ihre Hütte ist von „EBY“-Mitarbeitern mit der Nummer 112 versehen worden. „Wir wollen alle nichts wie weg hier“, erklärt sie stellvertretend für ihre Nachbarn. Doch wer nicht wie Antonia Assis direkt am Ufer seine Zelte aufgeschlagen hat, sondern sich in weiser Voraussicht weiter oben am Hang ansiedelte, um sich vor Überschwemmungen zu schützen, bekommt keine Entschädigung: „Nur die unteren bekommen ein neues Haus. Wer weiter oben wohnt, hat Pech gehabt“, offenbart „EBY“-Mitarbeiter Miguel Ramoz.

Den höchsten Preis für den wachsenden Energiebedarf Argentiniens zahlen die Ziegelbrenner, genannt oleros. Yacyreta macht dem traditionellen Gewerbe in der Region den Garaus. „Es gibt keine Lösung, denn die Tonfelder kommen nur am Ufer des Paraná vor“, räumt „EBY“- Mitarbeiterin Fermina Perez unumwunden ein. Ihre Kollegen in der „EBY“-Zentrale in Posadas lassen kritische Einwände dieser Art nicht gelten. Selbstverständlich könne man auch fernab vom Ufer des Paraná, zum Beispiel an seinen Zuflüssen, Tonfelder ausfindig machen, versichern einem dort hochgraduierte Ingenieure. Einen eventuellen Qualitätsschwund des Rohstoffs könnten die Ziegelbrenner außerdem durch „verbesserte Arbeitstechniken“ wettmachen.

José Loreiro, olero auf der argentinischen Seite des Paraná, tut so, als wüßte er von alledem nichts. Noch holt er aus den Tonfeldern am Fluß schubkarrenweise Material für die Produktion der Ziegelsteine. Mit seinen eigenen Händen formt er aus dem Schlamm täglich tausend Ziegel, die er nach einer gewissen Trockenzeit in einem Holzofen brennt. Preis für die Tagesproduktion: 60 US-Dollar. „Ich weiß nicht, wo ich hingehe“, sagt er achselzuckend, ohne die kräftezehrende Schufterei im Schlamm auch nur für eine Sekunde zu unterbrechen.

Sein Kollege Kuirino Denis aus Encarnación macht sich die Hände nicht mehr ganz so schmutzig. In den paraguayischen olarias, so der Name für die Ziegelbrennereien, werden die Bausteine maschinell angefertigt. Wie Brot auf dem Backblech stapeln sich die Quadrate aus Ton in der riesigen Scheune. „Es gefällt mir nicht, daß das Wasser kommt“, erklärt der 38jährige Brenner, der direkt neben der Fabrik wohnt, in der er seit seinem zwölften Lebensjahr arbeitet. Und mit einem geheimnisvollen Lächeln fügt er hinzu: „Wenn es soweit ist, werden wir schon sehen, was wir machen.“

Daß sich über den Ziegelbrennern auf beiden Seiten des Paraná ein unabwendbares Unheil zusammenbraut, darüber ist man sich auch bei der Betreibergesellschaft „EBY“ im klaren. „Am meisten Widerstand regt sich in Paraguay“, räumt Helena Correia ein. Sie ist bei der „EBY“ für Umsiedlungsprojekte verantwortlich. Seitdem sowohl Argentiniens Präsident Menem als auch die Weltbank- und IDB-Vertreter vor wenigen Wochen die Fertigstellung Yacyretas um jeden Preis eingefordert haben, steht Helena Correia unter Strom. „Jetzt wollen sie in zwei Monaten nachholen, was in den letzten zwanzig Jahren versäumt worden ist“, stöhnt die kolumbianische „EBY“-Mitarbeiterin.

Schon jetzt ist abzusehen, daß sie ihrer Aufgabe nicht gerecht werden kann, denn laut dem internen „EBY“-Bericht über den „aktuellen Stand von Umsiedlungen“ steht in Paraguay für die Umsiedlung der oleros „noch kein einziges Stück Land zur Verfügung“. Das bedeutet, daß 161 von insgesamt 307 Brennereibetrieben am 1. September dieses Jahres entschädigungslos untergehen werden. Die Überflutung der restlichen Betriebe ist eine Frage der Zeit.

„Yacyreta ist ein Alptraum“, entfährt es der Sozialarbeiterin Rosa Mendez (Name von der Red. geändert). Sie betreut 13 Familien, die im Februar dieses Jahres von einer kleinen Insel inmitten des Paraná aufs argentinische Festland umgesiedelt wurden. „Ihr Haus war ein Traum, sogar ich bekam Sehnsucht, als sie umziehen mußten“, erinnert sich Rosa Mendez an das Grundstück des Ehepaares von Canuto Espinola und Feliza Martinez mit ihren neun Kindern. Das isolierte Fischerleben zwischen Pfirsichhainen, Limonenbüschen und Apfelbäumen auf der Insel ist nun endgültig vorbei.

Auf den ersten Blick erscheinen die neuen Lebensbedingungen der Inselbevölkerung sogar außerordentlich positiv: Weil ihre Grundstücke in unmittelbarer Nähe der Hauptstraße liegen, die die Landeshauptstadt Posadas mit der Baustelle von Yacyreta verbindet, können sie ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse wesentlich besser absetzen und ihre Kinder in die Schule schicken. Eine Urkunde weist die Bauern zudem als rechtmäßige Besitzer des neun Hektar großen Grundstückes aus. Die Sache hat nur einen Haken: „Die Erde“, so Canuto Espinola, „war auf der Insel wesentlich fruchtbarer.“

Doch wer will das schon wissen? Die argentinische Regierung in der Hauptstadt Buenos Aires ist es leid, die „Mondlandschaft“ mit weiteren Millionen Dollar zu überschwemmen, und dringt darauf, daß sich das Wasserkraftwerk mit seiner Stromproduktion von selbst finanziert. Die Einwohner von Posadas, von den zahlreichen Arbeitsplätzen einmal ganz abgesehen, setzen auf Yacyreta, weil dann angeblich die Stromtarife in der verarmten ländlichen Region um 25 Prozent sinken sollen.

Die Universität von Missiones in Posadas hat an den lukrativen Gutachten für die „EBY“ gut verdient. Und wer weiß, vielleicht beglückt die binationale Betreiberfirma die Hauptstadt der Provinz Missiones sogar demnächst noch mit einer Strandpromenade? „EBY“-Mitarbeiter Miguel Ramoz glaubt daran: „Wenn der See vollgelaufen ist, wird eine Küstenstraße gebaut, und aus dem Elendsviertel am Hang wird die vornehmste Wohngegend von Posadas.“