Beutezüge

Variationen über Barthes' „Mythen des Alltags“, Teil II  ■ Von Thomas Milz

Wer kann, verschiebt das Wiedersehen mit Bekannten, wenn diese eben erst von einer Reise zurückgekehrt sind. Die Fähigkeit, Erfahrenes zu erzählen, ist selten geworden, statt dessen hat sich der Leistungsbericht des Abgefahrenen in Form der quälenden Litanei des „Und dann“ breitgemacht.

Eine Art theatralischen Essay über das Reisen stellt nun die Medea-Company mit ihrer neuesten Produktion im „Weiten Theater“ in Hellersdorf vor. „Mythen des Alltags II – Reise ans Ende der Nacht“. Allein mit dem Titel dieser Expedition ist viel vorgegeben. Die Mitreisenden sind Roland Barthes und Louis-Ferdinand Céline. Dazu gesellen sich noch fünf weitere mit schwerem Gepäck: Ibsen mit „Peer Gynt“, Joseph Conrad („Herz der Finsternis“), Albert Speer („Spandauer Tagebücher“), Henry Hames („Das Raubtier im Dschungel“) und Herman Neville mit seinem „Benito Cereno“. Ziel der Reise ist „Das Grauen“ (J. Conrad), Ausgangspunkt ein (deutsches?) Wohnzimmer mit einem von Leopardenfell überzogenen Sesselchen.

Auf so einfache wie sinnfällige Weise pointiert das Bühnenbild von Olf Kreisel die verschiedenen Stationen. Eine Wohnzimmersichtblende dient als Projektionsfläche für eingespielte Filmsequenzen, suggeriert Gitterstäbe eines Käfigs, gibt den Blick frei auf die Hinterbühne mit einem Vorhang, der Dschungellianen und Nachtclublametta assoziieren läßt.

Die erste Männerreise – und damit haben wir es hier zu tun – ist die von Peer Gynt. Regisseur Armin Petras collagiert unbekümmert heterogene schauspielerische Mittel: Vom hohen Ibsen-Ton wechseln Ulrich Keller (Peer) und Diana Neumann (Solveig) in den schäbigen Alltagston eines peinlichen Abschiedstelefonats. Mit der zweiten Station, Conrads „Herz der Finsternis“, setzt sich aber auch die Inszenierung den gefährlichen Untiefen und Stromschnellen aus, die dem Helden Marlow auf seiner Kongo-Reise begegnen. Eine Erzählerin (Rahel Ohm) muß das Bühnengeschehen mit den Höhepunkten des Romans vorlesend begleiten. Urwaldklänge vom Band sorgen für Stimmung, und dann wird ein Kernanliegen der Conradschen Erzählung, die Frage nach der Komplizenschaft mit einem Unrechtssystem, „übersetzt“ in die Selbstanklage eines DDR- Mitläufers – im Castorf-Sound. Das verscherbelt die Vorlage zu Kleingeld und bleibt als Nummer im Kontext nur privat. Der Mittelteil der Inszenierung ist ein Triptychon mit den Themen „Die Reise als Flucht“ (Speer), „Die verweigerte Reise“ (James) und „Die erzwungene Reise“ (Melville).

Ein Fund sind die Aufzeichnungen Speers über seine Reisephantasien im Spandauer Gefängnis. Er imaginiert Wanderungen, deren Kilometerzahl er mit der Disziplin des Büßers im Gefängnishof abläuft. Höhepunkt seiner Freude und des Wahns, an seinem Geburtstag ein Reiseziel „erreicht“ zu haben. Eindringlich Andrej Kaminski als Speer. Bedrückend die Filmeinblendung des einsam im Schnee seine Runden drehenden Gefangenen, der mit seinen Fußspuren die „Schrift“ der sinn- und endlosen Kreise zurückläßt.

Daß der Herzteil des Abends aus einer reinen, gutgemachten Filmetüde zu Henry James' Erzählung „Das Raubtier im Dschungel“ besteht, ist, so ironisch wie intelligent, der böseste Befund zum Thema: Es geht um einen Mann und eine Frau, die angst- und lustvoll erwartete Ferne bleibt aus; die Katastrophe ist das versäumte Naheliegende. Bei der Rückreise beginnt es allerdings, quälend zu werden. Der Unwille, noch eine Geschichte aufzunehmen, wächst. Und Melvilles „Benito Cereno“, die Reise als Zwangsdeportation, im letzten Jahrhundert geschrieben, Chiffre dieses Jahrhunderts, „writing on the wall“ fürs nächste, ist eigentlich auch zu gewichtig, um nur gestreift zu werden.

Mit der nun folgenden Wiederaufnahme von „Herz der Finsternis“ wird das dramaturgische Konzept und damit das Urteil der Inszenierung über ihren Stoff offenkundig: die Reise als Kreis, als Leerlauf. Petras gelingt mit der Darstellung der Fahrt des Dampfschiffes durch den Urwald ein gespenstisches Bild: Auf einem kleinen Wagen wird ein Aquarium hin- und hergezogen. In ihm winden sich drei Reisende: die Tropen, das falsche Element für Europäer. Am Schluß von Conrads Roman sucht der Erzähler die zurückgelassene Geliebte des Elfenbeinräubers Kurtz auf. Er will ihr dessen letzte Worte mitteilen, die sie nicht hören will, auf denen aber die Inszenierung um so dringlicher besteht: „Das Grauen. Das Grauen.“ Statt Elfenbein legt Marlow der Frau ein amputiertes Bein zu Füßen. Rimbaud winkt herüber (und damit auch Teil I der „Mythen“) und mit ihm auch ein vergeblicher Abschied von Europa. Der Kreis schließt sich, als auch Peer Gynt nach Hause kommt, als wäre nichts geschehen, Pralinen für die Liebste unterm Arm. Die Hinterbühne gibt jetzt den Blick auf zwei riesige Hamsterlaufrädchen frei.

Bei aller Bewunderung für dieses Unternehmen der Medea- Company bleibt leider auch ein schaler Nachgeschmack. Der Geste imperialistischer Gewalt, die diese Inszenierung kritisch-analytisch vorführt, verfällt sie selber. Die Texte werden ausgebeutet, als (exotisch) präparierte Lesefrüchte ausgestellt und schüchtern im Kontext der Inszenierung durch geliehene Autorität ein. Von Castorf bis Wilson reichen die Beutezüge – Souvenirs, die ein Eroberer von seinen vielen Theatergängen mit nach Hause gebracht hat.

Armin Petras: „Mythen des Alltags II“, Medea-Company. 22. und 23.4., 19 Uhr. Weites Theater, Schkeuditzer Straße 3, Hellersdorf.