Paul Touvier verurteilt

■ NS-Debatte in Frankreich geht weiter

Versailles (taz) – Die Odyssee des Paul Touvier ist zu Ende. Der einstige Miliz-Chef von Lyon ist in der Nacht zu Mittwoch von dem Geschworenengericht in Versailles zu lebenslänglicher Haft wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt worden. Der 79jährige ist verantwortlich für die Morde an sieben jüdischen Männern, die im Morgengrauen des 29. Juni 1944 an der Friedhofsmauer von Rillieux-la-Pape von Milizionären erschossen wurden.

„Ich bin stolz, ein Franzose zu sein“, sagte Gérard Ben Zimra gegen 1 Uhr nachts nach der Urteilsverkündung. Der Bruder des in Rillieux-la-Pape ermordeten Claude Ben Zimra mußte ein halbes Jahrhundert lang warten, bis sich ein französisches Gericht mit den Morden befaßte.

Touvier ist der erste wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilte Franzose. Sein Verfahren war in Frankreich mit Spannung erwartet worden. Denn erstmals mußte sich ein Gericht mit dem Antisemitismus des Regimes von Vichy befassen. AnwältInnen der Zivilkläger forderten, daß nach Touvier auch andere Landsleute wegen der bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen definierten „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vor Gericht gebracht werden. Sie nannten vor allem den einstigen Präfekten von Bordeaux, Maurice Papon, der die Deportation von 1.690 Juden organisiert hatte – und nach dem Krieg seine politische Karriere ungestört fortführte.

„Mitterrand, warum willst du Verbrecher gegen die Menschlichkeit schützen?“ fragte ein Transparent, das Mitglieder einer jüdischen Studentenvereinigung gegen Mitternacht vor dem Gericht aufstellten. Staatspräsident François Mitterrand hatte in einem wenige Tage zuvor veröffentlichten Interview über die Kollaboration der Franzosen mit dem Nationalsozialismus gesagt, man könne „nicht ewig mit dem Vergessen und dem Groll“ leben. Diesen Wunsch nach Versöhnung hegte schon sein Vorvorgänger im Präsidentenpalais, Georges Pompidou, der 1971 eine Begnadigung für Touvier schrieb.

„Chef Paul“, wie Touvier bei der Miliz genannt wurde, tritt eine Strafe an, vor der er 50 Jahre lang auf der Flucht war. Nach der Befreiung Lyons durch die Alliierten im September 1944 war Touvier samt dem Vermögen seiner der Gestapo vergleichbaren Miliz abgetaucht. Seither lebte er mit seiner Familie in der Klandestinität – finanziell unterstützt von konservativen Kreisen der katholischen Kirche und seit Anfang der 70er Jahre weitergereicht von Kloster zu Kloster. Erst 1989, nach jahrelanger Vorarbeit jüdischer Organisationen, kam es zur Verhaftung Touviers in einer Abtei in Nizza.

In dem viereinhalbwöchigen Gerichtsverfahren hat Touvier kein einziges Wort des Bedauerns für seine Taten gefunden. Wie in den Jahrzehnten zuvor bestand sein Hauptreflex auch vor Gericht in der Flucht. Er flüchtete sich in Schweigen, Vergessen und Müdigkeit. Sein Urteil nahm der krebskranke Mann – wie seinen gesamten Prozeß – ohne das geringste Zeichen der Anteilnahme entgegen. Dorothea Hahn

Kommentar Seite 10