Missionar unter Lärmheiden

Anlauf zu einer „akustischen Ökologie“? Oder bloß konservatives Pädagogenlamento? Gerald Fleischers Einsatz zur Erhaltung einer gefährdeten Spezies – der Gehörschnecke  ■ Von Richard Laufner

Die Chinesen kannten die akustische Hinrichtung: Das Opfer wurde unter eine riesige Glocke gelegt, die so lange von außen mit einem großen Klöppel zum Klingen gebracht wurde, bis die Schallwellen Ohr und Hirn zertrümmert hatten. Wenn Gerald Fleischer, Gießener Anatomieprofessor und Leiter der Arbeitsgruppe „Hörforschung“, über die alltägliche Musikbeschallung doziert, dann dringen schrille Begriffe wie „Folter“, „Terror“, „Tortur“ und „Brutalität“ an die bad-news-gestreßten Ohren. Doch obwohl die Arbeitsgruppe derzeit mit Drittmitteln der Bundeswehr – jährlich in eigenen Reihen für 10.000 bis 12.000 Knalltraumata verantwortlich – Hörschäden untersucht, ist sein Programm ganz unmilitärisch: „Wir brauchen eine akustische Abrüstung.“

Ein Audiopazifist. Einer mit Sendungsbewußtsein. Ja, er habe sich wie ein Missionar unter Lärmheiden gefühlt, erklärte der 50jährige, als er vor einigen Wochen von seinem Einsatz auf der „Internationalen Musikmesse“ in Frankfurt zurückkehrte. Sein 30.000 Mark teurer und 84 Quadratmeter großer Stand mit den grünen Gehörmeßboxen war rund um die Uhr belagert. Bis zu zwei Stunden standen 650 Musiker, Tontechniker, Boxenbauer und einfache Musikhörer an, um sich Hörgewohnheiten und Gehör testen zu lassen und über Computersimulation die Auswirkungen von Gehörschäden zu Gemüte zu führen. An Händels Largo oder Plaudereien von Badesalz, an Prinzen, Heino und Pink Floyd. Erstes Fazit von Fleischer und seinen Hörforscherkollegen, etwa dem Elektrotechnik-Diplomingenieur und Waldhornspieler Reinhard Müller und dem kirchenorgelnden Arzt Eckhard Hoffmann: „Von den Leuten, die ihr Gehör von Berufs wegen brauchen, hatte fast jeder einen Schaden.“

Hörschäden: die häufigste Berufskrankheit in Industrieländern, 15 bis 20 Prozent Lärmschwerhörige bundesweit, jeder zehnte Berufsanfänger betroffen – das klingt gar nicht gut.

Zum Zug auf die Musikmesse fühlte die siebenköpfige Arbeitsgruppe sich motiviert, weil sich „schätzungsweise eine Million junger Menschen allein in Deutschland ihr Gehör durch Überlastung selber schädigen“ – durch aufgedrehte Boxen, lange Disco- Nächte, Open-airs und vor allem Walkmen mit den kleinen Kopfhörern, die in den Gehörgang hineinragen und ihn verschließen.

Das klingt alles nach dem bekannten konservativen Pädagogenlamento – was aber nichts an dem Faktum ändert: Sind die je 18.000 Hörzellen, die in vier Reihen auf Einseitig taub

der Schnecke im Ohr sitzen, erst einmal abgestorben, ist eine Regeneration unmöglich. Die Sprache wird immer schwerer verständlich, die Musik klingt dumpf und breiig. Per Computer läßt sich's simulieren – auch die begrenzte Besserung durch Hörgeräte, die im Vergleich zu Sehhilfen ohnehin nur schamhafte Akzeptanz besitzen. Tumb bedeutete früher nicht umsonst taub und dumm.

Berufsmusiker, so Fleischer, sind gegenüber diesem heiklen Thema „sensibel – und flüchtig“. Wer mag als Professioneller schon gerne einen Gehörschaden zugeben? Kaum jemand wagt den Gang zum Arzt. Im lärmend-anonymen Ambiente der Musikmesse – Motto: „Sounds like Business“ – traute sich aber doch mancher zur Fleischer-Crew: langjährige Schlagzeuger, Tonmeister, Discjockeys und PA-Bediener. Insider wissen um deren Bemühungen, die verdrängten Hördefizite per Regler auszugleichen.

Nur selten erfährt die Fangemeinde von Hörschäden wie bei „Who“-Gitarrist Pete Townsend, der einseitig taub ist.

Nicht nur Rockmusiker sind betroffen, deren Publikum bei Open- airs bis zu 130 dB ausgesetzt sind (das schaffen nicht mal Tiefflieger). Auch die etwa 15.000 BerufsmusikerInnen in deutschen Orchestern setzen sich beim forte fortissimo in Tschaikowskys 5. Sinfonie oder dem von Fleischer geliebten Bolero von Ravel Pegelspitzen von 120 dB aus. Neben Schlagwerkern und den Nachbarn von Piccolo- Flötisten und „schwerem Blech“ stehen Dirigenten im Mittelpunkt der Beschallung. Daß „Dicke- Backen-Musik“ auf Dauer tumb macht, erfährt hier anatomische Bestätigung. „Berühmte Dirigenten haben alle unter Lärm und Schwerhörigkeit gelitten“, glaubt Fleischer. Das mag manche Einspielung erklären.

Lärmschwerhörigkeit ist nicht nur häufigste, sondern auch älteste Berufskrankheit. Die Steinmetze, die einst unter Ägyptens Sonne Pyramiden bauten, nutzten bereits pilzförmige Ohrstöpsel. Laut Homer wurden in Troja die Kesselschmiede wegen Lärmbelästigung zur Arbeit außerhalb der Mauern verbannt. Und die römischen LeBeethoven und van Gogh

gionäre steckten sich Petersiliebüschel in die Ohren, um sich vor dem Gesang eines zu entführenden Druiden zu schützen – wie wir aus „Asterix als Gladiator“ wissen.

Keine Entwarnung wegen Beethoven, der die letzten acht Lebensjahre taub war und trotzdem die 9. Sinfonie komponierte – aus dem Gedächtnis. Eine Kulturgeschichte der Schwerhörigkeit wäre nicht nur für Musikhistoriker eine ertragreiche Aufgabe. Klassik- Freund Fleischer vermutet, daß van Gogh sich das Ohr abschnitt, weil er wie sechs Millionen Deutsche heute an Tinnitus, also dauerhaften Ohrgeräuschen, litt.

Besondere Gefahr für Musikrezipienten und -produzenten: Lästiger und schädlicher Schall sind zweierlei. Der berühmte tropfende Wasserhahn nervt, ist aber außer für die Psyche nicht weiter gefährlich. Eine stark frequentierte Schnellstraße hat dieselben Pegelwerte wie Meeresrauschen – und wird trotzdem ganz anders wahrgenommen. Musik wird üblicherweise willkommen geheißen, bisweilen sogar als volle Dröhnung gesucht – bei Techno-Parties zwecks Körper-Vibrations, untermalt durch gar nicht mehr hörbaren subsonischen Sound.

Eine akustische Ökologie läßt sich aus alldem nicht ableiten, aber doch einige Lebensregeln. Fleischers Empfehlung: Das Ohr schonen, ihm Ruhepausen gönnen, Gehörschutz und die in Japan gängige elektronische Begrenzung der Lautstärke bei Walkmen, „moderat hören“. 1990 hatte der ehemalige Mitarbeiter des Umweltbundesamtes mit seiner Streitschrift „Lärm, der tägliche Terror“ eine Attacke gegen Individualverkehr, Tiefflieger und Lärmverwalter geritten, die wie ein Akustik-Programm der Grünen klang.

Direkt technikfeindlich soll das aber nicht klingen. „Die Industrie kann nicht nur daran interessiert sein, die Verbraucher zu auditiven Krüppeln zu machen“, beschwört der Anatom gemeinsame Interessen. Er selber vergleicht übermäßigen Musikkonsum schon mal mit Alkoholismus. Da scheint dann etwas häßlich religiöses Eifern durch.

Was aber nützen die Mahnungen und Aufklärungskampagnen, all die gerührten Trommeln für Abstinenz? Wir wissen es: nicht viel. Weshalb Fleischer sich gelegentlich auch von der Gegenwart abwendet. Vor Jahren hat der Mediziner neben Walen und Delphinen die Paläaudiologie studiert, die Hörfähigkeit Ausgestorbener. Aus der Zeit stammt auch sein Motto – „molto vivace ma con poco brio“.