Immer dieser Untatendrang

■ Uraufgeführt und durchgefallen: „Nietzsche“, das letzte Tanzstück von Hans Kresnik fürs Bremer Theater

Hinterher brachte es keiner mehr über sich, „Schwachsinn!“ oder sonst was Geeignetes zu brüllen, was wenigstens eine Art von Erlösung gewesen wäre, sondern es tröpfelte ein wenig Applaus in die Betretenheit, dann schlichen alle hinaus, und das war dann das Ende der Ära Kresnik in Bremen.

Traurig, wahr und schon auch wundersam, denn Kresnik hatte es in seinem „Nietzsche“ gehalten wie in seinen früheren Stücken auch, für die er getreulich bejubelt worden war: Er nahm eine Gestalt, die genügend durchgemacht hat, strich ihr den Rest der Geschichte und hetzte sie dann durch eine Bühnenwelt des Hauens, Stechens, Leidens, Quälens, Haareraufens und Papierefressens, bis wieder einmal bewiesen war, daß die ganze Gesellschaft bloß eine Zoologie von Untieren und der Mensch des Menschen Kresnik ist.

Bloß diesmal ging es ganz daneben, denn es ist dem Nietzsche in seinem Leben einfach viel zu wenig zugestoßen, im Grunde gar nichts. Frida Kahlo zum Beispiel hatte ihren grausigen Unfall und tausende von Operationen; da konnte man alles mögliche mit dem Krankenbett anfangen und malerische Kreissägen jaulen lassen. Nietzsche aber hat nur irgendwelche Sachen geschrieben, und Kresnik muß sich's dann eben mächtig zurechtlegen, nämlich so: Der lange Henry Bailey als Nietzsche schrammt in gewissermaßen epileptischer Raserei an den Wand entlang, mit Gürteln gefesselt von oben bis unten, ins geifernde Maul einen Stift geklemmt, mit dem er alles vollschmiert, die Wand, den Boden, die andere Wand, und das ist von allen Bildern noch eines der originellsten.

Gleich am Anfang aber zeigt sich, wie es zwei Stunden lang weitergehen wird: Da sehen wir die Bühne von Penelope Wehrli, eine Art Hohlweg mit geneigten Wänden links und rechts. Nietzsche ist da und seine Schwester Elisabeth, die ihn ihr Leben lang neidvoll angehimmelt hat, wie zum Glück bekannt ist, denn sonst würden wir's nun von Kresnik erfahren: Elisabeth, da sie immer zum Bruder aufgeschaut hat, steht rechts unten und schaut immer zum Bruder hinauf, der links oben steht, und schon ist auch der Neid zur Stelle, sie fängt an zu strampeln und will nun ebenfalls die Wand hinauf.

Man glaubt es ja doch nicht, aber auf diese Weise hat Kresnik alles, was schon immer kopflos über Nietzsche dahergeschwafelt worden ist, Phrase für Phrase in Kresnikbilder übertragen, die dann natürlich auch mehr oder weniger gewalttätig ausfallen. Der Vater war ein wenig gar zu frömmlerisch? Bei Kresnik stopft er den Buben mit Hostien! Nietzsche tat sich schwer mit dem Leuteleben? Schon tanzen sie auf der Bühne Polka, und einer kommt einfach nicht in den Tritt! Nietzsche quälte sich sehr vor dem Weibe an sich? Gleich kommt es dahergeschlängelt, und Nietzsche kraucht staubfressend hinterdrein! Die Schwester heiratet den Antisemiten Förster? Schon ist er zur Stelle und stempelt (!) mit einem großen Brandeisen (!) zuverlässig einen Juden ab.

Kurzum: So ungescheut ist schon lang nicht mehr dem Gewaltkitsch geräuchert worden, und das reaktionärste Nietzscheanertum könnte seine Freude daran haben, denn Kresnik huldigt wieder einmal dem elementaren Untatendrang, den er vorgibt zu bekämpfen wie kein zweiter auf Erden. Es gibt aber weder Gesellschaft noch Geschichte mehr bei ihm, sondern nur noch deren sinnlose Wahrzeichen wie etwa Bücher, die aber nur herumgeworfen werden, oder Hakenkreuzbinden, die aber nichts als „Monster“ bedeuten. Sonst gibt es nur Natur und Gewalt, und vollends die Menschengestalten in der Kresnikwelt könnten geradenwegs dem krachdumpfen Herdenmenschen-Gequargel entsprungen sein: Es handelt sich um eine Art vollautomatischer Kreaturen, die zueinander höchstens in dem Verhältnis der Nahrungskette stehen, und die einzige Frage ist, wer wen verschlingt.

Nun ist aber Kresnik immer noch schlau genug gewesen, diese Frage, nachdem er sie blödsinnigerweise gestellt hat, auch gleich politisch korrekt zu beantworten: Natürlich kennzeichnet er all die Teufelhaftigkeit als eine typisch deutsche, und natürlich ist die Hauptperson wieder einmal ihr Opfer und nicht das seine, auch wenn dieser Nietzsche zwei Stunden lang als jämmerliches Würstchen über die Bühne marodieren muß, was ihm kein noch so ungnädiges Geschick angetan hätte. Und natürlich sind auch wieder die ostinaten Faschisten unverbrüchlich mit von der Partie, weil die ganze Gewalttätigkeit am Ende ja doch von den richtigen Leuten ausgehen muß.

Es ist aber bloß alles eine Kresnikphantasie; man erkennt sie an ihrer bedingungslosen Brutalität und daran, daß sie an einem überlegenen Werk wie dem von Nietzsche vorbei und ins gänzlich Groteske rasen muß, weil ihr dazu einfach nichts einfällt außer Würgegriffen.

Dabei hätte es, wenn man schon das Werk beiseite läßt, selbst in der Familiengeschichte des Philosophen eine Menge Theaterstoff gegeben. Nehmen wir nur mal die Schwester Elisabeth, die ja auch bei Kresnik eine Hauptrolle spielt (verkörpert von Andrea Hovenbitzer): Von Kindesbeinen an verehrte und haßte sie den Bruder zugleich, weil die ganze Familie um ihn herumkreiselte, seit er nach dem frühen Tod des Vaters der einzige Mann im Haus war. Später stellte sie ihr halbes Leben in seinen Dienst, sie führte ihm jahrelang den Haushalt, sie intrigierte mit Erfolg gegen seine zwei, drei Liebschaften, und sie hielt sich schadlos an der Reputation, die in seinem Schatten für sie abfiel. Umso verbissener achtete sie darauf, daß er sich's nicht verdarb mit den besseren Kreisen, und das führte so weit, daß sie nach seinem Tod das Verfügungsrecht über sein Werk an sich brachte, um es im Sinne des Herrenmenschentums umzufälschen.

Es ist dies also ein wechselseitig parasitäres Verhältnis, wie Kresnik es eigentlich lieben sollte, aber was hat er nur für ein böses Unding aus dieser Schwester gemacht! Sie ist halt ein Drachen. Sie rauft andauernd mit den andern Weibsen. Und am Ende, wo der Kampf um den Nachlaß des toten Dichters drankommt, da fetzt sie sich mit der Konkurrenz tatsächlich meterweise um die Papierbahnen, die von seitwärts heruntergerollt kommen, und alles, alles rafft sie tatsächlich zu einem dicken Packen zusammen, und dann fehlt nur noch, daß sie ja gewonnen hat, und tatsächlich: Sie hockt sich auch noch drauf. Da gingen schon die ersten Leute. Manfred Dworschak

nächste Vorstellung: heute um 20 Uhr im Schauspielhaus