Das Herz ist ein Hohlmuskel

■ Aids-Tod als Avantgarde-Oper: COR von Christian Wolz

Ouvertüre: In der tiefen Dunkelheit macht sich nur etwas rotes Licht bemerkbar, gerade soviel, daß ein Schemen am vorderen Bühnenrand sichtbar wird. Noch hat die Stimme, die sich tremolierend, heulend, schreiend über den Raum legt, kein Gesicht. Vom Band kommt ein laut schlagendes Herz, und ein Sprecher holt die realitätsabgewandte Stimmung auf den Boden der wissenschaftlichen Tatsachen zurück: „Das Herz ist ein Hohlmuskel, der die Aufgabe hat, das Blut durch den Körper zu pumpen.“

„Diasystolication“, der erste Akt von Christian Wolz' Avantgarde-Oper COR, hat seinen Lauf genommen – und damit die Geschichte vom HIV-infizierten jungen Mann, der nur noch durch eine Sprache, die seine eigene Welt beschreibt, mit der Umgebung kommunizieren kann. Dieses Kommunikationsmittel aus der Tiefe der Seele ist Lautmalerei und Urschrei zugleich, phonetische Poesie und Hilferuf zwischen Verzweiflung und Erschöpfung.

Der Dialog eines Mannes mit seinen Ängsten, Hoffnungen und Erinnerungen kommt nicht von ungefähr: Jahrelang hat Wolz als Krankengymnast in psychiatrischen Anstalten, später dann in einem Aids-Hilfe-Projekt gearbeitet. Die Erfahrungen dieser Zeit fließen in seine Kompositionen, Texte, Bilder und Improvisationen ein. Selten hat jemand die Mär vom Aids-Tod als Orgasmus schwulen Lebens schonungsloser entlarvt und gleichzeitig die menschliche Isolation eines Infizierten deutlicher gemacht. Dabei verzichtet Wolz auf jegliche Verspieltheit, der Anzug ist nur eine zweite Haut, die Bühne bis kurz vor Schluß völlig kahl. Die geniale Lichtchoreographie von Martin Hauk unterstreicht das Fokussierende der gesamten Aufführung. Die hohe Konzentration entsteht durch gezielte Bündelung, die Atmosphäre der Premiere von COR im Theater am Halleschen Ufer gleicht nicht selten der Stimmung in einer Kirche.

Übergroße Dias schieben sich immer wieder ins Blickfeld, wirken, nicht nur aufgrund ihrer Drastik, zusammen mit der akustischen Ebene wie ein Stummfilm. Bilder von Männerkörpern, nackt und ineinander verschlungen, Solarisationen und Verfremdungen, die nicht erotisch wirken, sondern wie das Echo eines Lebens, das noch einmal Revue passiert. Der „Vokalartist“ Wolz ist das Medium, er führt mit seiner Stimme durch diese Endphase eines zu kurzen Lebens, krächzt, röchelt, wimmert, hechelt, singt sich in lichte Höhen, seltener in die Baßregionen. Mit bis zu fünf Mikrophonen arbeitet der Sänger auf der Bühne, scheint die Eigenheiten dieser Stimmverstärker und -verzerrer aus dem Schlaf zu beherrschen. Die begleitende Soundspur, eine Mischung aus Texten – die meisten Zitate sind aus Gesprächen mit Aids-Kranken – Streichinstrumenten, Gesängen und der Klangwelt einer Intensivstation, ist dem Wolzschen Vokal- und Bildwerk auf den Leib geschneidert.

Und doch ist das Ensemble von Bandeinspielungen und Live-Effekten des Guten zuviel, potenziert die permanent und exzessiv verwendete Technik manches, was durch des Vokalisten Ausdrucksstärke schon genug wäre. Am Ende sitzt das sterbende Individuum in einem Glaskäfig, von draußen tönt das weiterblubbernde Leben – Kinderlachen und Schritte von Passanten. Das Publikum ist ernst, ergriffen und erledigt zugleich. Eine Zuhörerin macht sich, kaum auf der Straße angekommen, Luft, setzt die Aufführung mit eigenen Mitteln fort und schreit und schreit und schreit... Anna-Bianca Krause

Heute und morgen abend jeweils um 20 Uhr im Theater am Halleschen Ufer, Kreuzberg